Dienstag, 14. Juni 2011

Arbeitsprotokoll

6:00 Nachrichten und Kaffee laufen. Während ich Wasser nachgieße (die Nachrichten laufen von alleine), fällt mir ein, daß ich mich gestern nach dem Umweg durchs Gebüsch nicht nach Zecken abgesucht habe. Ich hole das nach. Griechenland droht der Staatsbankrott. Interessant, wo man überall Bettfusseln findet.

6:05 Daniel Finkernagel begrüßt die Zuhörerschaft zur Sendung Mosaik. Finkernagel ist einer meiner Lieblingsmoderatoren. Keine Zecke. Kaffee fertig. Tag fängt gut an.

6:07 Erstmal E-Mails checken und Internet-Nachrichten.

6:10 Habe den Eindruck, daß die Mosaik-Sendung über die Jahre immer unruhiger geworden ist. Melancholische Gefühle streifen mich. Ich vermisse Landwirtschaft heute („die Sendung über Lebensmittel für morgen“). Man könnte eine Anfrage an Radio Eriwan machen. Natürlich wäre die Antwort klar: Im Prinzip ja. Aber sowas geht heute nicht mehr. Mir fällt auf, daß es von recht vielen Dingen heißt, sie gingen heute nicht mehr. Wahlweise heißt es auch, sowas könne man heute nicht mehr machen. In der Grundschule die Termini Substantiv, Adjektiv, Verb einführen. Kann man heute nicht mehr machen. Werbung für Zigaretten und Alkohol im Fernsehen zeigen. Kann man nicht mehr machen. Die Kinder unbeaufsichtigt auf die Straße lassen. In der vierten Klasse eine ungekürzte Ganzschrift lesen. Einfache Chemikalien wie Natronlauge oder Salzsäure in der Drogerie verkaufen. Atomkraftwerke bauen. Geht alles nicht mehr. Frische Sprossen im Salat: Kann man heute nicht mehr machen.
Die Menschen werden immer einfältiger, hat man den Eindruck. In ein paar Jahren, male ich mir aus, sagt man im Germanistikseminar immer noch „Tunwort“.

6:20 Zwei Absätze geschrieben. Gewagte Sprache, aber wer wagt, der gewinnt. Kaffee fast leer. Träume von einer zweiten Tasse.

6:30 Kulturnachrichten. Ich habe den Eindruck, daß überall nur gequasselt wird. Das Mosaik setzt sich aus immer kleineren Steinchen zusammen. Ständig wird irgendwo unterbrochen, Design im Dasein, Unfug mit Fugen, Migranten des Wortschatzes, das Radio ist zu einer Kultur der Unterbrechungen und Häppchen geworden, so eine Art akustisches Fingerfood.

6:35 Habe die zwei Absätze wieder gelöscht. Sowas kann man heute nicht mehr machen.

6:39 Jemand sagt, Regisseur A oder B habe einen Film realisiert. Ich bin beeindruckt. Realisiert hat er den Film. Nicht einfach gedreht, was hemdsärmelig, oder gar nur gemacht, was ja schon schludrig wäre, nein realisiert. Das klingt doch gleich ganz anders. Nach Idee, nach Einfall, nach Genie.

6:40 Bin in der Frage, was man heute machen kann, ratlos und realisiere einen Zweitkaffee.

6:50 Was ich schon immer geahnt habe, heute wird es offenbar: Händels Violinsonaten sind belanglos.

6:55 Ich frage mich, was die Macher von Mosaik bewogen hat, als letzte Musik vor dem Journal ein Vokalstück zu spielen. Was soll das sein, eine Erziehungsmaßnahme?

7:09 Noch unverständlicher ist mir, warum seit ein paar Tagen im Journal vor dem Wetter ein Fußballreporter in einer der frühen Stunde absolut unangemessen extatischen Tonfall Spielergebnisse des Vortages zusammenfaßt. Absurd scheinen mir in diesem Zusammenhang vor allem die Stadion-Hintergrundgeräusche. Es wird sich um sieben Uhr in der Früh wohl kaum um eine Live-Einblendung handeln. Nervensäge.

7:10 Kaffeeflash. Habe einen Absatz geschrieben, der mich nicht weiterbringt, und der das Problem, alles Vorformulierte im Plot unterzubringen, nur verschiebt. Ferner die Frage, wo die Erzählerlüge von dem, was in Echt passiert ist, abzweigt. Schwierig, Was ist überhaupt in Echt? Auch darum, fällt mir ein, wird es gehen in dem Roman.
Ein Musikstück wird angekündigt, Finkernagel gönnt sich wieder mal ein improvisiertes Rätsel. Der Komponist wird charakterisiert als ein sehr religiöser Mensch, der eins seiner Werke gar „dem lieben Gott“ gewidmet habe. Einfach! Das ist derselbe, der gegen Ende seines Lebens Buch über die täglich verrichteten Gebete geführt hat.

7:17 Nehme mir vor, über meine Kaffees Buch zu führen. Bruckners Streichquintett ist wie seine Symphonien, nur leiser.

7:30 Auch die Sätze haben ähnliche Spieldauer.

7:35 Kersten Knipp ticht uns frich die Kultur-Presse-Schau auf. Habe noch einen Absatz geschrieben, von dem ich weiß, daß ich ihn wieder löschen werde. Die Gedanken schweifen ab. Ich kann mich nicht konzentrieren. Entweder es fehlt an Koffein, oder ich habe zuviel davon im Kreislauf. Verdammte Sucht.
Gut wäre für die Lügenversion des Erzählers eine ménage à trois, oder die Ankündigung einer solchen. Ein Ereignis, das sich später, wenn die Wahrheit ans Licht kommt, als heimlicher Wunschtraum erweist.

7:43 Dreißig Seiten an der ménage-à-trois-Szee geschrieben. Kurzes Writer’s High. Muß aufpassen, daß die Phantasie nicht mit mir durchgeht.

7:44 Kirche in WDR 3. Zur Einstimmung singt der Troisdorfer Kinderchor den Choral zu vier Stimmen, „Herr Jesus will mich decken“ von Johann Gottlieb Sauertopf. Dieses Salbadern um kurz vor acht könnten sie mal wirklich abschaffen. Und dafür wieder Landwirtschaft heute senden.

7:54 Der Radiowecker schaltet sich zum Glück aus, bevor zum ersten Mal das Wort Gott fällt. Überlege mir, wie es wäre, einen Worterkenner zu haben, der automatisch die Lautstärke dimmt, sobald das Wort Kirche oder Jesus oder Kürzlich erzählte mir ein Freund fällt. So eine Art Kirchenscanner. Das wär mal was.

7:15 Die Phantasie ist mit mir durchgegangen. Habe die 30 Seiten ménage-à-trois-Szene wieder gelöscht.

7:20 Könnte die ménage-à-trois-Szene ja auf dem Blog posten. Haha.

7:25 Kaffee ist aus. Radio ist stumm.

7:30 Cursor blinkt erwartungsvoll.

7:31 Cursor blinkt erwartungsvoll.

7:32 Cursor blinkt erwartungsvoll.

Donnerstag, 9. Juni 2011

Noch kein Solstitium

Morgens unterwegs, ein beliebiger Werktag, das Werk hat schon begonnen, der Tag wartet noch ab. Eine Fahrt über Land, im Bus, das Fahrzeug schaukelt auf den Wellen der Hügel. Champagnerblasen jagen das Frühlicht über den Horizont. Der Morgen erwacht und stürmt voran, atemlos hängt ihm alles nach. Der Bus schaukelt. Das Buch liest sich selbst rückwärts und läßt mich nicht mitlesen. In der Tasche ermüdet ein Stück Brot. Der Bus bremst und beschleunigt. Über den Wiesen fliegen dunkle Pferde. Später, in der Stadt, sind die Pferde verschwunden, spielt der Himmel auf den Wolkenkratzern Klavier. Die Sonne exstatisch, orchestral, zarathustrisch. Wenn man jetzt nur wach wäre. Die Bäume stehen sill und verrenkt wie in eine Yogaübung vertieft. Aber dies ist keine Probe mehr, man hört es am Sonnentusch: Jetzt wird es, jetzt macht der Morgen ernst, vielleicht macht auch schon eine ganze Jahreszeit mobil, mit Rollkoffern und Aktentaschen.
Die Richtungen spielen Labyrinth und schieben die Menschen herum. Es wird ernst, überall kann man es lesen. Wenn man will, ich will nicht. Die Entwicklung ist nicht aufzuhalten, doch ich bin für diesen und für andere Ernstfälle nicht gewappnet. Ich hoffe, noch einmal davonzukommen, nicht mitmachen zu müssen bei Sonnenaufgang und Marsch. Ich stecke die Hand in die Tasche und finde dort eine verstaubte Kastanie vom letzten Herbst. Ich bin so müde, daß die Haut kribbelt und die steife Chlamys ein Tonnengewicht ist am Leib. Ich bin Jahrtausende alt. Mein Leib ist aus Marmor, durch Spalten schwitze ich klebrigen Schlaf aus. Die Fingerspitzen schmerzen, sie sind tagesverbrannt und lichtwund, ich sehne mich danach, sie in die strömenden Schatten eines Ahorns zu tauchen. Unauffällige Gesellschaft und Publikum den Traumtänzern, suche ich mir im Park eine Bank aus. Ein bißchen Mond wäre nicht schlecht, aber wann es wieder welchen geben wird, ist ein Geheimnis der Werwölfe. Die Zeichen stehn alle auf Tag. Schon lange habe ich keine Sternschnuppe mehr gesehen.

Mittwoch, 8. Juni 2011

(ohne Titel)

Nicht aus Berlin zu sein, ist wohl nur für Berliner eine relevante Information.

Montag, 6. Juni 2011

...

Rubi

Mittwoch, 1. Juni 2011

Handelnde Orte

Menschen interessieren mich nicht. Geschichten interessieren mich. Rätsel. Das Unheimliche. Nicht was Menschen tun, sondern was geschieht. Und Orte. Vielleicht ist es deshalb so schwer für mich, beim Schreiben Personen zu formen. Vom Handelnlassen ganz zu schweigen. Motive sind mir selten klar. Trotzdem fesseln mich Geschichten. Obwohl Geschichten ohne Personen, keine Geschichten wären. Spannend finde ich nicht die Menschen mit ihren Ticks, absonderlichen Bedürfnissen, Antrieben oder Ängsten; der Auslöser für den Wunsch zu schreiben, ist meistens der Ort, nicht der Mensch, ist ein Geheimnis, das in einem Ort verborgen liegt, ist eine Atmosphäre, ist eine Erinnerung, die aus einem Ensemble von Begrenzungen, die einen Ort definieren, aufsteigt, eine Erinnerung, die sich anfühlt, als wäre es gar nicht meine eigene. Aber wessen Erinnerung ist es dann? Vielleicht die des Ortes selbst. Das kann ein ganz trivialer, langweiliger Ort sein. Ein Hof. Eine Straßenkreuzung in einem Vorort. Ein öder Kinderspielplatz mit zusammengestürzter Schaukel. Ein Wellblechverschlag. Seine Besonderheit erlangt er durch die Beziehung, die er zu anderen Orten hat, die ihm gleichen, ihn ergänzen, ihm in der Erinnerung vorausgegangen sind, die ähnliche Ereignisse mit ihm teilen, oder die, obwohl ganz anders gestaltet, die gleiche Stimmung ausstrahlen, und ihn damit als Verwandten erweisen. Oft lösen Orte den starken Impuls aus, über sie zu schreiben zu müssen. Es ist etwas an ihnen, das mir keine Ruhe läßt. Sie wollen etwas von mir. Oder sie zeigen mir, daß ich etwas von ihnen wollen muß. Nur warum, das zeigen sie nicht, das muß ich herausfinden. Sie geben mir ein Rätsel auf, das ich nur lösen müßte, um glücklich zu sein.
Noch nie hat mich ein Mensch auf diese Weise in Bann geschlagen. Menschen sind notwendig, man braucht sie und interagiert notgedrungen mit ihnen, doch lieber käme man ohne sie aus. Man müßte also von Orten schreiben wie man von Personen schreibt. Man müßte nicht die Geschichte an einem Ort, sondern den Ort in einer Geschichte spielen lassen. Mit Menschen als quasi statistenhaften Bedingungen und Umständen: als eine Art dynamisches Setting für den wahren Protagonisten, den Ort.

Donnerstag, 26. Mai 2011

Moebius

Der Himmel, der dich anblickt, mit seinen Zähnen aus Laternenpfahl und Müllcontainern. Die Pappeln unternehmen einen Reformversuch, der von den Vögeln vereitelt wird. Deine Grübeleien spiegeln sich matt im Kies. Ringsum ist alles voller Plan: Die Bikini-Models sind noch schmaler als letztes Jahr, nächstes Jahr werden sie vielleicht ganz verschwunden sein, eine Linie zwischen zwei Hälften Strand und Meer. Aber wer soll dann den Bikini tragen, grübelst du. Alles steckt voller Absichten. Postfächer schnappen nach Hochglanz. Tacker heften fleißig Lächelsalven zu Stapeln, katalogisieren die morgigen Bedürfnisse, zur schnellen Verfügung. Lichter und Schilder verfügen über deine Schritte. Überall blinkt es von Taschen, in denen der Abend fein verpackt ist. Feierabend-to-go. Über allem dreschen Helikopter auf die Wolken ein, um die Spreu vom Lichtweizen, du hast keine Ahnung. Pläne: Nur du hast keinen, schon gar nicht Wolken betreffend, ist doch die Wahl des richtigen Waschpulvers („Personalisiere dein Omo!“), ist doch die Wahl des geeigneten Vibrators (Big®, Well-Endowed® oder Maxi-Max®?), ist doch die Frage nach der Klobürste, die am besten zu dir paßt (jetzt mit scrub-o-flexTM Technologie) eine wahnsinnige Herausforderung. Die Entscheidung, Circe oder Medusa, kostet dich tausend gestaute Herzschläge. Kaum zu bemeistern: Die Ansprüche des nächsten Tages. Seine high density Flaggen. Da ist es gut, die Wolken: daß sie einfach nur sind. Und daß sie Vögel bei sich dulden, unendlich sanft.
Du suchst nach Hinweisen. Vielleicht gibt es irgendwo einen Spalt, einen Riß, den die Wurzel eines Veilchens schlug. Womöglich ist hinter der Spiegelung noch mehr. Doch wie auf die andere Seite eines Möbiusbandes gelangen? Der Horizont leidet unter Atemnot. Bleib noch ein bißchen, stürze noch nicht ein. Halt mir die Wolken fest.
Zwischen den Kapitelüberschriften, dem Auge des Fischreihers und dem Karussell der Jahreszeiger gibt es kein Entkommen.

Donnerstag, 12. Mai 2011

Fagott

Von Fagotten habe ich schon einmal geträumt, diesmal aber war ich selbst der Fagottist. Merkwürdig genug, war es auch noch ein sehr seltsames Instrument, hatte es doch keine Grifflöcher bzw. Klappen, sondern einen Trompetenzug aus Metall, den man wie den Kolben einer Fahrradpumpe ziehen mußte, um die Tonhöhe zu verändern. Diese originelle Abwandlung eines Fagotts hatte ich in einem Korb gefunden, in dem noch mehr Instrumente (alles Fagotte verschiedener Bauart) standen, nicht ungleich Spazierstöcken in einem Souvenirladen. Auf diesem seltsamen Instrument spielte ich im Traum eine Melodie, von der ich noch beim Erwachen wußte, oder zu wissen glaubte, woher sie stammte. Mittlerweile bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich nicht wieder Musik träumend phantasiert habe – diesmal nicht mehr nur als Zuhörer, sondern Instrumentalist selbst. Ich weiß nur noch, daß es eine Motivsequenz war, in der sich eine Tonfolge höher oder tiefer, vielleicht auch nach Moll gewendet, wiederholt; und wie beglückend es war, auf Anhieb die richtige Position des Kolbens zu finden.

Hummelgebrumm, Großvätergemurmel, tolpatschiges Bärengetorkel – manche meinen ja, das Fagott eigne sich besonders für humoristische Effekte. Das ist ein Irrtum, der daraus herrührt, daß das arme Rohrblattinstrument de facto oft für musikalische Scherze eingesetzt wurde. Aber dafür kann es nichts. Es hat jedenfalls nichts mit seiner Natur zu tun, die a priori nichts Komisches an sich hat. Und umgekehrt eignen sich andere Instrumente genauso gut für musikalische Späße. Die Klarinette quakt, die Posaune röhrt, das Cello pupst, und brummeln kann ein Horn mindestens genauso gut wie ein Fagott.

Dem Fagott haftet der Ruf des Marginalen an. Wer lernt schon Fagott spielen? Saxophon, Schlagzeug, Querflöte, oder, wenn es denn E-Musik sein soll, Violine oder Klavier, na gut. Aber Fagott? In einer US-Kinderserie aus den 70ern kam einmal ein etwas unbeholfener und unsportlicher Junge vor, der ausgerechnet Fagottunterricht bekam. Fagott, das ist wie CB-Funk oder Makramé, das hat irgendwie etwas Nerdiges.

Edgar Degas: L’Orchestre de l’Opéra
Nicht nerdig: Edgar Degas, L’Orchestre de l’Opéra

Das war natürlich nicht immer so, und zum Glück haben viele Komponisten die lyrischen-elegischen Möglichkeiten klar erkannt, die der warme und sanftdunkle Klang des Fagotts bietet. Nur in den tiefen Lagen hat die Klangfarbe nämlich etwas Brummeliges, und auch dann nur bei geeigneter Spielweise. Weich und voll wie eine Tenorstimme in der Mittellage, gewinnt der Ton des Fagotts in der Höhe eine federnde, energische Härte, die im Piano auch schmeichelnd und zärtlich klingen kann, wie eine Oboe, nur daß ihm das Schneidende fehlt. Der Klang mischt sich sehr gut mit dem anderer Instrumente, ist aber auch für Solopassagen geeignet. Und so ist das Fagott im klassisch-romantischen Orchster seit gut 250 Jahren fest etabliert. Es gibt aber auch manch dankbares Stück in der Sololiteratur. Abgesehen von seinem unermüdlichen Einsatz als Continuo-Instrument haben sich namhafte Barockkomponisten des Fagotts auch als eines virtuos spielbaren Soloinstruments angenommen: Von Telemann gibt es neben einer Sonate für Fagott und BC ein viersätziges Konzert für Fagott, Altblockflöte, Streicher und BC, eine eigentümliche Mischung, könnte man meinen, aber Telemann hat es ausgezeichnet verstanden, die so gegensätzlichen Klangfarben von Blockflöte und Fagott als Solointrumente in einem Konzert unterzubringen, und so nicht nur die Fagott-, sondern auch gleich die Blockflötenliteratur um eine Perle bereichert. Geradezu vernarrt in das Instrument scheint Vivaldi gewesen zu sein: Nicht weniger als 39 Solokonzerte (mehr als für jedes andere Instrument) hat er dem Fagott gewidmet. Mozart, Weber, Hummel, Danzi, sie alle haben Werke für Fagott und Orchester zur Konzertliteratur beigesteuert. Und natürlich darf im klassichen Bläserquartett das Fagott als Bassinstrument nicht fehlen. Die Romantik behandelte das Instrument eher stiefmütterlich, während Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts wieder mehr für das Fagott komponiert wird. Saint-Saënts’ Sonate für Fagott und Klavier, deren einziges Manko ist, daß sie nicht länger dauert, ist ein frühes Beispiel für das wiedererwachte Interesse. In der Moderne haben unter anderen Jean Françaix, Heinz Holliger, Karl-Heinz Stockhausen und Peter Maxwell Davies Solowerke für das Fagott komponiert, und sogar Tom Waits hat die dunkleren Register dieses unterbewerteten Instruments zu schätzen gewußt.

Natürlich wird das Fagott nicht mit einem Posaunenzug gespielt, sondern auf Grifflöchern, bei modernen Instrumenten mit chromatischer Bohrung, deren Handhabung durch ein kompliziertes Klappensystem (der Mensch hat nun einmal nur 10 Finger) ermöglicht wird. Eine Art von Posaunenzug wäre schon deshalb gar nicht möglich, weil das Rohr des Fagotts nicht gerade verläuft, sondern wie ein Siphon u-förmig gebogen ist, worauf schon die Position des Mundstücks an der Seite hindeutet. Das Fagott ist sozusagen eine zusammengeklappte Röhre. Daher hat es vermutlich auch seinen Namen. Fagotto bedeutet schlicht „Bündel“.

Freitag, 6. Mai 2011

Ein Bach hinterm Haus

Vor ein paar Tagen ein verwirrendes Geräusch. Gegen Abend, beim Essen: Durch das gekippte Fenster anhaltendes Wassergluckern, verspieltes Geplätscher, als ströme hinterm Haus ein echter Bach. Da füllt jemand eine Gieskanne, dachte ich. Es würde gleich aufhören. Aber es hörte nicht auf. Ich schloß das Fenster, beendete das Mal, öffnete das Fenster wieder: Der Bach floß immer noch munter dahin. Ich schloß das Fenster, machte den Abwasch, öffnete wieder: Geplätscher, nach wie vor.

Wie bei allen Geräuschen, muß ich dem auf den Grund gehen, ruhe nicht, bevor ich die Geräuschquelle gefunden habe und werde leicht wahnsinnig, wenn mir das nicht gelingt. Ich gehöre zu den Menschen, die dem geheimnisvollen Fiepen so lange durch die Wohnung folgen, bis sie die undichte Thermoskanne als Ursache identifiziert haben. Oder alles auf den Kopf stellen, bis sie das feine Blubbern unter der in einem Wasserfilm stehenden heißen Tasse geortet haben. Ohnehin schon geräuschempfindlich bis zur Psychose, bedeutet für mich die unbekannte Herkunft eines neuartigen Schallefekkts eine dramatische Steigerung der bei Geräuschexposition auftretenden Symptome: Herzrasen, Atembeschwerden, Sehstörungen, Bluthochdruck, Halluzinationen. Geräusche sind schrecklich. Aber Geräusche, deren Ursprung man nicht bestimmen kann, sind das reine Grauen.

Das Paranoide dabei (man könnte denken, das sei schon paranoid genug, aber weit gefehlt), das wirklich Paranoide dabei ist, daß mir Geräusche, die ich eigentlich mag, sofort ein Dorn im Ohr sind, wenn sie von Menschen verursacht und mir ungebeten zugemutet, aufgezwungen werden: Ein echter Bach hat keine Absichten und Wünsche, er kann mir sein Plätschern nicht aufzwingen. Der Buchfink vorm Fenster, er tut nur, was er tun muß, und um diese Jahreszeit kann er nicht anders als zu trällern. Bach wie Buchfink empfinde ich nicht nur nicht als störend, sondern im Gegenteil als wohltuende Bereicherungen des Klangkosmos um mich herum. Aber ein Plätschergeräusch, das der Nachbar aus Absicht oder einfach nur aus Unachtsamkeit oder als Nebeneffekt einer anderen Intention erzeugt, geht mir sofort auf die Nerven; und ein Buchfinkengeträller von einer Vogelstimmen-CD, das derselbe Nachbar stundenlang laufen ließe, würde Mordgedanken in mir reifen lassen. Wohlgemerkt, das Geräusch kann ununterscheidbar „echt“ sein. Ob es mich stört oder nicht, darüber entscheidet nur das Bewußtsein, ob es auf Menschenwitz und Menschenlist zurückzuführen, oder die absichtslose Natur selbst am Werk ist.
Es ist ein bißchen so wie mit der Fälschung in der Kunst. Eben noch hat uns das siebte Brandenburgische Konzert in Verzückung versetzt, da erreicht uns die Nachricht, es sei eine moderne Fälschung aus dem 20. Jahrhundert – und mögen es fortan nicht mehr hören. Nur das Bewußtsein, daß nicht der Meister selbst es geschaffen hat, verleidet uns den Genuß von Klängen, die auch nach der Erkenntnis dieselben bleiben.

Genauso stört mich ein Geräusch oft erst dann, wenn ich weiß, woher es kommt. Dem verleideten Genuß entspricht dann der Zorn auf den Urheber. Ein rhythmisches Klappern und Scheppern in einem Zug wird ab dem Moment unerträglich, wo ich begreife, daß es nicht den Fahrtgegebenheiten, dem Gegenwind oder den Gleisen verschuldet ist, sondern aus den Ohrstöpseln des Nachbarn herausschallt.

Ich bin neulich dann aber doch über meinen Schatten gesprungen und habe beim Einschlafen mich bemüht, das Wassergeräusch als solches zu nehmen wie es ist: Eine im Grunde angenehme Anwesenheit, ein willkommenes, beruhigendes Geplätscher, das unbedingt an eine sylvestrische Idylle erinnert. Ich versuchte, mir einen echten Bach dazu vorzustellen. Ich dachte noch an Forellen, die mit sanft ondulierenden Bewegungen im Strom stehen, dann schlief ich ein.

Ich hoffe, der Buchfink ist echt.

Donnerstag, 28. April 2011

Beim Blick auf die Terrasse gegenüber

Auf der Terrasse gegenüber, umzingelt von Rosen: Eine junge Frau im grasgrünen Bikini, so knapp, daß es einer vollständigen Nacktheit gleichkommt, einer Nacktheit, die insofern ungewohnt und atemberaubend ist, schockierend fast, da sie in schüchternem und zugleich selbstverständlichen Gegensatz steht zu der gewöhnlichen, ubuquitären Nacktheit als Institution, eine Korrektur all der stumpfsinnig perfekten und puppenhaft-einförmigen Nackten oder Bikininackten, denen man ständig im öffentlichen Raum begegnet, auf Plakaten, in Zeitschriften, in der Werbung, ein Widerpsurch gegen diese gebräunten, einheitsschlanken Reiseprospekthotelstrandnackten, deren Makellosigkeit etwas ernüchternd Unwirkliches hat und daher auch keinerlei Assoziationsräume aufreißt, nichts Bezauberndes an sich hat, etwas Verlockendes schon gar nicht. Wie anders dagegen diese Bikininackte auf der Terrasse, in einem gnadenlos ehrlichen Licht stehend, das jeden Quadratzentimeter Haut preisgibt, wie sie, eben noch mit dem Zusammenlegen einer Decke beschäftigt, sich umdreht, ihre Rückseite zeigt, und, für einen Augenblick, während die offene Tür ihre Frontseite schräg einspiegelt, doppelt sichtbar, unter den Schatten der Terrassentür verschwindet. Atemberaubend ist diese Nacktheit, weil sie in ihrer Hinfälligkeit, Verletzbarkeit und ihren kleinen Fehlern so viel echter ist als jede photographisch inszenierte Haut es auf Hochglanz je sein könnte, ja, überhaupt erst echt durch das schwellende Fleisch, die leisen Einschnürungen von Höschen und Oberteil, das Wackeln der Muskulatur beim Ausschütteln der Decke, das Ausladende von Hüfte und Po und die feinen Faltungen und Striche der zarten Orangenhaut, das alles sind Zeichen der Echtheit, und erst darum ist diese Frau schön, im Sinne von: begehrenswert schön, erst durch diese Fehler (aber wieso sollte man Orangenhaut und Speck Fehler nennen, wodurch sind das Fehler, und wäre es nicht richtiger, sie Perfektionen, Perfektionierungen zu nennen?) löst ihr Anblick eine Lawine von Assoziationen, einen Strauß sehr konkreter, lebendiger und, in ihrem Verweis auf ein Nicht-Statthaben von Realität, schmerzlicher, verlustaufzeigender Phantasien aus:

Ich finde diese Verdichtung und Schwere des Leiblichen wieder in bestimmten Photographien, die, quasi absichtslos geschossen, etwas von der faszinierenden Alltäglichkeit eines normalen Körpers einfangen; wo die dort Abgebildeten so sehr und so deutlich Körper sind wie jene Hochglanzfigurinen bloße Abbilder, bloße Symbole-von und Verweise-auf sind, die Abstraktion nur von etwas Körperlichem, eine Idee; Gestalt, aber ohne echten Leib, ohne Fußabdruck im Sand, über den sie so sportlich dahinjagen (so abstrakt, daß auch der Sand und das Meer nicht ganz echt sein wollen unter dieser bloßen Idee von Füßen). Echte Pornographie wird denn in meinen Augen auch erst dort möglich, wo ein Anhauch des Echten gelingt, wo das wie zufällig gefundene Dargestellte den Eindruck von Ausdünstung, von Gewicht und taktilem Reiz zu vermitteln, nahezulegen, zu beschwören vermag; beim Amateur; bei der zufälligen, unprofessionellen Nacktheit, bei der nicht zur Schau gestellten, absichtslosen und ihrer selbst womöglich gar nicht bewußten Nacktheit, so wie sie nur der Voyeur je zu sehen bekommt. Solcherart aufgezeichnete und betrachtete Frauen sind aus Fleisch und Blut, müssen duschen und ihre Wäsche wechseln, sie sind müde, fühlen sich stark, waren heute morgen auf der Toilette, haben Stuhlgang, Gänsehaut und Hunger: Sie sind echt. Sie stehen, wie alles Lebendige, immer auf der Kippe zum Verfall, zum Gestank, zum Tod. Sie sind empfindliche Wesen, leicht verderblich, in metastabilen Gleichgewichten geborgen. Sie sind sterblich und voller Leben, sterblich und kostbar; und schön.

Montag, 25. April 2011

Melancolia veris

In einer Art umgekehrter Entsprechung zum Wetter hält mich die Traurigkeit. Je bunter das Draußen, will mir scheinen, und dieser April ist ein teuflischer Ausbund an Buntheit, desto grauer das Innen. Nachts erwacht, die Decken sommerwarm, aufgestanden, Wasser laufen lassen und nicht mehr ein- noch ausgewußt vor Traurigkeit. Trau-grau-grauslich: Es sind diese schlimmen Stunden, irgendwann zwischen drei und vier Uhr, vor dem ersten Vogelton, der indes auch nicht tröstlich wäre, draußen die Nacht, die Welt, auswegslos, verschlossen, riesig, eine Steilwand aus Zeit und Raum ohne Betriebsanleitung, kein Vogel, die Nacht schläft, ich bin wach, und innen alle Bastionen und Wehre zerbrochen. Strom und Stau von ungebetenen Gedanken, derer ich nicht Herr werde. Gäste mit grimmigen Gesichtern hocken sie auf der Türschwelle, sitzen am Tisch, ziehen Bücher aus dem Regal, schütten das Blumenwasser weg.
Ein Zur-Unzeit-Sommer ist das aber auch! Grillgeruch am Abend. Autos mit offenen Scheiben, Wummern von Beat & Bass. Morgens bereits Sonnenschirme auf den Balkonen. Bunter April, heitere Menschen, tödlicher Pollen. Rätsel, Sphingen, Bögen mit aufgedruckten Losungen. Auf der Terrasse der Nachbarn holt man sich Nachtisch. Stimmen. Es sind viele Stimmen in der Luft dieser Zeit, ziellos und ungebeten, wie Ungeziefer aus Licht. Man sitzt und räkelt sich, ein Ellenbogen liegt sonnengecremt auf einer Sesselarmstütze, Buschwerk verhüllt die Gesichter, die Luft, warme, vogelstimmensatte Luft, ist voller Verbindungen, macht die Stimmen flugfähig, falter- und flatterfähig.
Was sind das für Leben, denke ich angesichts dieser Zurschaustellung fremden Mit-in-der-Welt-Seins, was sind das für Wege, Lebens- und Todeswege, was für Gesichter, Träume hinter der Stirn? Was für Opfer haben sie gebracht, um da jetzt zu sein, in diesem Haus, Nachtisch löffelnd, auf der Terrasse, ahnungslos und zufrieden mit dem Bunten um sie herum, was für Opfer, die ich nicht zu bringen bereit war?

Mittwoch, 20. April 2011

In A. oder Bad O. (Sommer 1993)

Was man am Ende behalten haben wird:
Ein Mäuerchen. Der Ortsname: ungewiß. Bürohausfassaden, eine breite Straße, vielleicht eine Kreuzung. Wahrscheinlich viel Verkehr. Verspiegelte Fassaden. Plustriger Sommer, die Zeit schmeckt nach Ewigkeit. Ein Mäuerchen, nicht einmal das ist gewiß. Geruch nach Duschgel und frisch getrocknetem Haar, das erschließe ich mir. Später im Auto Nachrichten aus dem zerfallenden Balkanstaat, die erste, damals, vieler Krisen. Merkwürdig, was man behält. Die Fahrt eine lange Steigung hinunter, während Namen auf -ic und -vic und -cic aus dem Radio drangen. Die Autobahn gibt es ja immer noch. Und auch die Raststätte, wo unser Fahrer dich in einer Pause, beim Kaffee, fragte, wie du es geschafft habest, in Klettenberg eine Wohnung zu bekommen. Du hast vorne gesessen, und ich habe manchmal deinen Scheitel berührt, wie um mich zu vergewissern, daß du noch echt seist.
Auf der Mauer, Stunden vorher. Ich weiß noch, daß da eine Fliege war. Ich habe den Versuch gemacht, auf dem Mäuerchen, das vielleicht gar nicht existiert, dir etwas zu sagen. Ein Anlauf, eine Ankündigung. Ein verhülltes Aussprechen, eine Formulierung, die das Wort, um das es ging, nicht enthielt, so intensiv nicht enthielt, daß du es leicht ergänzen konntest. Es war da, das Wort, unausgesprochen. Ummantelt von anderen Worten, das Wort im Negativ. Aber du: Mahntest: Wie das Gebot einer Göttin, du sollst so etwas Großes nicht leichtfertig aussprechen. Nicht einmal leichtfertig aussparen sollst du es, oder, weh uns! andeuten.
Leichtfertig oder nicht, ich hätte es sagen sollen. Es war groß, aber nicht zu groß. Auf dem Mäuerchen, in dem Ort mit dem Namen mit A oder Bad O, der für uns nur Durchgang war, ein zufälliger Fleck, auf dem man nur darauf wartet, weggefahren zu werden; oder später, so viele Augenblicke.
Du hattest Angst, es könne zu groß sein, nicht standhalten, zu früh sein, und, zur Unzeit ausgesprochen, später bitter werden angesichts der Zeit, der wir nicht gewachsen gewesen wären, möglicherweise.
Nun aber: Wir waren nicht gewachsen, der Zeit nicht, dem Unausgesprochenen nicht, und also keinem Wort nicht. Doch das Wort gesagt zu haben, wäre heute nicht bitter. Bitter ist, es nicht gesagt zu haben.

Donnerstag, 14. April 2011

Mal wieder ÖPNV

Ich mache das jetzt seit 18 Jahren.
Man könnte meinen, man würde sich daran gewöhnen. Wenn die Zustände unverändert blieben, schwer zu ertragen, wie sie sind, wäre das vielleicht so. Aber sie bleiben nicht unverändert. Sie waren unerträglich genug. Und sie werden schlimmer. Die Rede ist vom öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV).

Als ich begann, ihn in dieser Gegend zu nutzen, gab es jede Stunde zwischen Bonn und Köln genau zwei (mit Verbundfahrkarten nutzbare) Nahverkehrszüge. Das waren quietschende, schaffnerpflichtige, mit allerlei Treppen und anderen Hindernissen („Barrieren“) bewehrte, von einer schnaufenden und ächzenden Lok mühsam gezogene Dinger, die nach Bremsgummi rochen, „Silberlinge“ hießen und aussahen wie aus Gußeisen gefertigt. Darin gab es eine Menge Sitzplätze, in die man sich hineinfallen lassen konnte wie in Großmutters Lieblingssessel, man konnte die Fenster öffnen, wenn es heiß war, und die Toiletten waren zwar nicht behindertengerecht, dafür aber nie außer Betrieb. Zwischen den Wagons mußte man über eine Brücke aus zwei aufeinander liegenden Stahlplatten steigen. In den Ritzen an der Seite flitzten Striche von Landschaft und Gleisschotter vorbei. Der Lärm war enorm. Man darf sagen, in der Hauptverkehrszeit waren diese Züge ziemlich ausgelastet, aber ich kann mich an keinen menschenmasseninduzierten Streß damals erinnern. Es ging halt. Stehen mußte ich fast nie, und wenn, dann war auch das Stehen noch bequem. Man konnte gelassen bleiben.

Seitdem sind viele Jahre ins Land gegangen. Mittlerweile gibt es überall moderne Niederflurbahnen mit „automatischer Türabfertigung“, die nicht nur den ehrwürdigen Arbeitsplatz eines Schaffners überflüssig machen, sondern außerdem behindertengerechte Toiletten haben, die nie funktionieren. Die automatische Abfertigung bedeutet, daß die Türen zu sind, wenn sie mal zu sind. Tritt ein ernsterer Schaden auf, müssen sie, statt wie früher den betroffenen Wagon, gleich einen halben Wagen abhängen, was häufig vorkommt und des Teufels ist. Dafür kann man jetzt mit dem Rollstuhl/Kinderwagen/Rollator direkt vom Gleis stufenfrei in den Wagen rollen, vorausgesetzt, man erwischt eine Tür, deren Elektronik nicht gerade wieder defekt ist. Statt Schaffner gibt es jetzt übrigens so eine Art Berggorillas1 in Uniform, die auf Provisionsbasis Schwarzfahrer abkassieren sollen, und deren Wortschatz aus drei Wörtern besteht: „Fahrkarte!“, „Ausweis dazu!“ und „Vierzsch Euro!“. Ich übertreibe natürlich. Die Uniform fehlt meistens.

Als die Dinger (die Niederflurzüge, nicht die Berggorillas) zuerst aufkamen, sahen sie so geräumig und gemütlich aus, daß man sich wunderte, warum plötzlich viel weniger Menschen Platz hatten als in den alten Zügen. Denn es war voll. Ein weiterer Zug pro Stunde wurde eingeführt. Und es wurde noch voller. Und noch voller. So voll, daß man nicht einmal mehr bequem stehen konnte. Man mußte froh sein, überhaupt ins Innere gelangt zu sein, aber richtig froh wurde man dann trotzdem nicht.
In der Zwischenzeit hatte ich meine Arbeitszeiten um eine Stunde nach hinten verschoben, um der rush hour auszuweichen. Das ging eine Weile gut. Der 9:01-Zug von Bonn Hauptbahnhof war so wenig besetzt, daß man immer einen Sitzplatz bekam, und zwar einen guten Sitzplatz, also einen ohne störende Nachbarn, ohne Zeitungsgeraschel, Laptop-Rumgeklapper oder Kopfhörerblech.

Doch nach ein paar Monaten war es damit vorbei. Sei es, daß die Arbeitszeiten flexibler wurden, sei es, daß die Bahn idiotischerweise ein besonders günstiges Ticket für die Zeit nach 9 Uhr wiedereingeführt hatte (so einen Unsinn gab es tatsächlich mal), oder vielleicht hatte das Schulministerium NRW eine Ausflugspflicht für Schulen beschlossen: Der Zug wurde jedenfalls voller und voller, bis das Niveau des 7:01- und des 8:01-Zuges erreicht war und seine Benutzung nicht mehr empfehlenswert schien. Wie die Verhältnisse inzwischen bei letztgenannten Zügen aussehen, wage ich mir nicht auszumalen.
Also wieder ausweichen, diesmal auf den 8:53er. Der hält an jeder Pißkanne und braucht 7 Minuten länger, aber lieber 7 Minuten länger fahren als 7 Minuten schneller viehtransportiert werden. Das ging bis vor einem halben Jahr gut, als plötzlich, eines schönen Frühherbsttages des Jahres ’10 die Fahrgastzahlen über Nacht in die Höhe gingen. Ich glaubte an etwas Vorübergehendes, eine jener unsäglichen, als „Messe“ bezeichneten, vom epidemieartigen Auftreten namensschildbewehrter Asiaten in Nadelstreifenanzügen begleiteten Massenveranstaltungen in Deutz, ein gastierendes Ensemble in der Köln-Arena, Monsterwochen® im Phantasialand (besonders für Schulklassen geeignet!) oder so etwas. Ich knirschte mit den Zähnen, übte mich in Geduld und hoffte, daß die Zahlen wieder zurückgingen. Aber die Zahlen gingen nicht zurück. Sie stiegen. Auch waren weit und breit keine Grüppchen schwarzgekleideter Asiaten mit Namensschildchen zu sehen (Schulklassen schon, gehäuft in den letzten drei Monaten vor den Sommerferien). Messe kam als – vorübergehende – Ursache also nicht in Betracht. Irgendwann war es mit dem Zähneknirschen so schlimm, daß mich eine Mitreisende anherrschte, was ich denn „für’n Problem hätte“. „Sie“, hätte ich zurückfauchen sollen, „Sie sind mein Problem. Daß Sie hier rumstehen und den Raum mit mir teilen wollen. Ihre Nähe. Ihre bloße Anwesenheit. Ihre Visage. Daß Sie den Bannkreis meines Territoriums berührt haben. Was haben Sie iegentlich vor 15 Jahren gemacht, als das Bahnfahren noch kein Massenphänomen war?“ Aber ich schwieg, knirschte mit dem, was an Zahnstümpfen noch übrig war und stieg bei der nächsten Station aus, um auf den Folgezug zu warten. (Der genauso voll war.)
Da die Lage mit den Wochen immer angespannter und schließlich unhaltbar geworden war, mußte eine andere Lösung her. Also wieder ausweichen, diesmal auf die Stadtbahnlinie 18. Die braucht zwar doppelt so lange wie der Zug, aber lieber, und so weiter.
Das ging jetzt zwei Monate gut.
Also: Entweder ich ziehe diese Dinge teleprotreptisch an, oder ich entdecke neue Verkehrswege immer just in dem Augenblick, in dem sie von allen anderen auch entdeckt werden. So wir der Fahrradständer vor dem Edeka, aber das ist eine andere Geschichte.
Weitere Ausweichmöglichkeiten sehe ich keine. Ein Auto kommt aus vielerlei Gründen, nicht zuletzt ökologischen, nicht in Frage. Bleibt nur noch das Fahrrad. Dann bräuchte ich zwar bei gutem Wetter und Rückenwind doppelt solange wie mit der Stadtbahn und viermal so lange wie mit dem Zug, aber ich wäre an der frischen Luft, ich säße bequem und teilen müßte ich meinen Fahrradsattel auch mit keinem.


1 Ich entschuldige mich bei allen Berggorillas für den Vergleich.

Montag, 11. April 2011

Iura iuventutis

Deine Bemerkung über die Zumutungen des Bürgerlichen hat mir die Augen geöffnet. Ich habe etwas übersehen oder nicht damit gerechnet, als ich diese meine Lebensweise gewählt habe: Daß es ein Alter gibt, wo Extravaganzen, Experimente und Ausscherungen aus der Normalität in den Augen der Gesellschaft ok sind, ja sogar erwartet und manchmal auch bewundert werden; daß damit aber irgendwann Schluß ist. Damit habe ich nicht gerechnet. Ein sechzigjähriger Aussteiger wird höchstens noch belächelt: Der Unverbesserliche! Meist wird er bedauert: Armer Tropf! Oder verachtet: Gescheiterte Existenz! Dann heißt es womöglich von ihm, er sei halt nicht erwachsen geworden. Habe keine Verantwortung übernehmen wollen. Ein Spinner, ein Träumer, ein Phantast. Und was der Epitheta mehr sind. Den Konformitätsdruck, der solcherart ausgeübt wird, empfinde ich zunehmend selbst, oder besser, er macht mir immer mehr etwas aus, er geht mich immer mehr etwas an, er zielt immer mehr auf mich. Aber von wem geht dieser Druck aus? Wer übt ihn aus? Wer rümpft die Nase über meine Lebensweise? Das schlimme ist: Niemand anderes als ICH SELBST. Denn meine eigene Lebensform, begegnete sie mir in anderen, wäre mir sogleich suspekt. Was ist das für ein komischer Kauz? Ist der vielleicht nicht ganz richtig? Macht der sich nicht selbst was vor? Belügt der sich nicht selbst, um sein Versagen nicht sehen zu müssen? Der komische Kauz mit der Lebenslüge indes, das bin ich selbst. Und manchmal möchte ich mich dafür hassen. Das ist die eine Seite.

Die andere ist: Wenn Lebensalternativen nur der Jugend frommen, wenn jeder Ausbruchsversuch, jedes Inanspruchnehmen der eigenen Freiheit nur an ein ganz bestimmtes Alter gebunden ist, dann führt sich der Begriff der Alternative selbst ad absurdum. Dann ist jeder solche Versuch des Nonkonformismus von Vorneherein schon wieder konform: als Teil des gebilligten Spiels. Dann ist die Alternative immer nur ein Spiel, ein Als-ob, eine Inszenierung. Dann heißt es, einer stößt sich die Hörner ab oder lebt seine Jugend aus. Wie süß! Aber wehe, jemand wagt, ernst zu machen, und das heißt: Die Sache durchzuziehen: Dann spricht man von einem Altkommunisten oder Altachtundsechziger oder einem unverbesserlichen Altöko oder sonst einem nur noch mit der Vorsilbe Alt- beizukommenden Menschentyp, und den findet keiner mehr lustig und schon gar nicht süß. Den findet man nur noch peinlich. Abgesehen von der Frage, wie man es anstellen müßte, auch als 70jähriger Kommunenbewohner noch ernst genommen zu werden in der eigenen Absicht und Lebensplanung, frage ich mich für mich selbst: Was ist los mit mir, daß ich den Abstand dazu nicht schaffe und immer mehr mit mir selbst ins Unreine gerate? Ich habe mich doch gut eingerichtet in meiner Nische, ich könnte zufrieden sein. Warum bin ich es nicht? Warum habe ich einen Blick auf andere, unter dem ich selbst zur fragwürdigen Existenz schrumpfen muß?

Mittwoch, 6. April 2011

(ohne Titel)

Sich noch beim Noch-nicht aufhalten und schon vom Nicht-mehr eingeholt werden.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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