Die Stadt am Ende des Jahrtausends

Montag, 21. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (6)

Der letzte aller Abende. Seitdem hatte das Abendlicht sich aufgelöst, die Stunden der Dämmerung sich selbst ad absurdum geführt.
Der letzte aller Abende.
Es gab keine Abende mehr.
Es gab nur noch Tage, nur noch Licht.
Kein Verklingen mehr. Keine Restsüße mehr. Die Textur des Lichtes änderte sich: Farbe, Härtegrade, Geschwindigkeit, Dichte, Amplitude, die Sonne ging unter, es wurde dunkler und schließlich ganz dunkel, und irgendwann, na ja, war es halt Nacht. Aber ein Abend war unter den neuen Verhältnissen, war nach jenem

letzten aller Abende

nicht einmal denkbar. Wie hätte auch. Zu einem Abend hätte gehört, daß man gemeinsam hinaussah auf die gleißenden Schindeln, die verdampften Kamine, das niederfallende Blau. Zu einem Abend hätte der Glanz in E.s Gesicht gehört, die Spiegelung dieses Niederfallens, die Bestätigung von Welt und Sonne und Schönheit, die ihm aus E.s Auge zuteil geworden wäre, und ihr schweigendes Dasein, und ihr Lachen, und ihr sattes Seufzen, wenn sie getrunken, wenn sie das letzte Stück Pizza aufgegessen hätte. Zu einem Abend würde die Terrasse gehören, die Albernheiten der Kinder im Nachbarhaus, das Quietschen der Güterzüge jenseits des Bahndammes, die die nahende Dunkelheit durchwirkten. Ein geflüstertes „Du …“. Um ein Abend zu sein, hätte es eines gemeinsamen Bettes bedurft, des Hinsinkens in müder Keuschheit. Um ein Abend zu sein, hätte diese Stunde sie beide enthalten müssen: ihrer beider Atmen, ihrer beider Vergegenwärtigung von Tag und Weg und Gemeinsamkeit, ihrer beider Müdigkeiten und ihre Erwartung darauf, gemeinsam wachzuwerden unter dem Himmel des nächsten Tages.
Und überhaupt einen nächsten Tag.







(7)

Mittwoch, 16. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (5)

Auf den Büchern, die genau so dalagen wie an jenem Tag, da E. ihm die Tüte mit seinen Sachen schon an die Tür gestellt hatte, sammelte sich der Staub. Aufgeschlagenes blickte mit Reihen zerbrochener Buchstaben in den Raum, hier murmelte ein Titel auf einem Buchrücken, dort schielte ein Klappentext nach dem Fenster; eins über das andere gestapelt in der Reihenfolge des letzten Zugriffs, türmte sich Murakami über Walser, keilten sich Statius und Apuleius wie in einem klassischen Ringkampf ineinander und hielten sich gegenseitig offen, und in einer zärtlichen Liebesumarmung der Belletristik umfing der muskulöse Liddle–Scott die zarte Sappho, die mit gespreizter Bindung unter ihrem Liebhaber lag und eine halbe nackte Seite hervorschimmern ließ, die über die Wochen allmählich vergilbte. „The Mill on the Floss“ lag, nach oben aufgeschlagen, halb unter dem Bett, daneben ein Stapel Lexika, an die sich, schlank, fein, und in blauem Umschlag, eine Gedichtanthologie lehnte, aus deren Seiten es von Lesezeichen wie von Gedärm herausquoll. Manchmal schrägte sein Blick dahin. Aber er las nicht. Am Vorabend des Abends, an dem die Tüte an der Tür gestanden hatte, am Abend vor dem letzten aller Abende, hatte er noch an diesen Stapel gerührt; jetzt schien diese Sammlung nur noch eine Kuriosität zu sein, die Widerspiegelung der Grillen eines Bucheremiten, eines Besessenen. Einer anderen Welt gehörte das an. Der Stapel war noch da, E. war noch da, die Stadt war noch da, in der es eine Haltestelle schon jetzt gab, wo man etwas erblicken konnte, das den Lichtwochen ein Ende machen würde, das alles war schon da.
Er selbst war weiter.
Wo überhaupt? In einer Welt, die sich des Abends und der Dämmerung entledigt hatte und in einem Taumel aus Licht sich selbst aufgab. Puzzlelösen war das einzige, das ihm erlaubte, sich abzulenken und gleichzeitig an E. zu denken, das einzige, das die Schwebe hielt zwischen dem Selbstzerstörerischen einer ausschließlichen Beschäftigung mit E. und dem hoffnungslosen Versuch, in die Labyrinthe und Sprachfarbigkeiten eines Romans einzutauchen und zu vergessen. Nur über diese zerbochene Welt des unfertigen Puzzles gebeugt, konnte er an E. denken, ohne an sie denken zu müssen.





(6)

Montag, 14. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (4)

Er löste ein Puzzle in diesen zerbrechlichen Tagen. Nachmittage lang kniete er auf dem Boden, nur mit einem Schlüpfer bekleidet, ein nasses Handtuch auf Rücken und Schultern, und sortierte Teile nach Farbe und Strukturen, probierte, schob herum, verglich feinste Schattierungen Himmelsblau, versenkte sich in die Vorlage, versuchte, eine Linie wiederzufinden, ein Farbknötchen, ein unscheinbares Fleckchen Gewölk. Hielt manchmal ratlos inne und starrte dann minutenlang durch den Fußboden, bis die verstreuten Puzzleteile sich voneinander wegzubewegen begannen, mehrere tausend Ausschnitte: ein Meer, Tümpel, Wolken, Wellenkämme, das Stück eines Felsens in einer Klippe in einer Küstenlinie, Stückchen vom Stückchen vom Stückchen, in hunderten völlig gleichartiger Teile geborstener Himmel, über den der transparente Schatten der Gardine strich: Pappstücke, die die Silben einer Entdeckung enthielten und für sich behielten, deren Sinn sich erst im Gefügtsein ergäbe, wie es hier und da, in Inseln plötzlich aufscheinenden Wiedererkennens, noch getrennt, aber schon im Griff des einen nach dem andern, sichtbar wurde.



(5)

Mittwoch, 9. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (3)

Die Stillen lösten sich auf. Briefe blieben liegen, verschwiegene Kammern füllten sich mit Wärme und Staub, Unüberlegtes wucherte, Wortpfeile, Satzgeschosse, Herden trampelnder Syntagmen. Wochenlang schwankten die Nächte im Lärm, gab der Asphalt ein Summen von sich, schmatzte Pflaster, Beton, Bitumen, geschwollen von Licht, das sich, selbst lange nach Sonnenuntergang, noch aus den Poren einer zerschlagenen Polyesterepidermis zu pressen schien. Anschwellen und Verklingen von Sirenen. Bässe unter dem geöffneten Fenster. Träge Pulsschläge. Manchmal erwachte man von kreischendem Schrecken, lag, die Augen ins Gewühl der Dunkelheiten verheddert, mit klopfendem Herzen wach, ein Geräusch? Ein Schrei, klirrendes Glas? Meistens blieb alles still, bis auf ein Knistern von Schuppen und Panzern, das vom Dach zu kommen schien oder aus dem Hausflur. Da warf man die Decke abermals von sich, atmete ins feuchte Laken, in die eigene Fremdheit hinein, und gab sich dem Versuch hin, weiterzuschlafen.




Dienstag, 8. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (2)

Das Licht hämmerte in den Straßen, Tag für Tag, Woche für Woche; jeden Morgen aufs neue hing es blau vor den Fenstern, türmte sich da so ein Blau, so ein gewalttätiges Blau, so ein lärmendes Blau, gegen das man die Augen nicht schließen kann, so ein Blau, das jeden Schlaf, und sei die Müdigkeit noch so groß, durchteilt, spaltet, zerreibt, zunichte macht, ein Block Farbe, ins Zimmer gewuchtet. In den Straßen lagen Schatten umher, hart, scharf, den Einbruch und die Verkantungen der Helligkeit wie ein Schraubstock umfassend. Die Menschen schon in der Frühe hinter den Spiegelungen der Sonnenbrillen verborgen. Ströme von Insektenmasken. Füße, die aus Turnschuhen herausquollen. Finger, die überall Abdrücke hinterließen. Flecken auf Hemden, Dunkelheiten der Erschöpfung. Eine Straßenbahnhaltestelle, auf die plötzlich der Blick fällt, durch einen Schlauch aus Menschenleibern hindurch, eine Haltestelle, schlank von Schatten, eine Bahn, die sich entfernt, eine Arena aus Licht. Wochenlang dieses Licht. Bis zu jenem Tag. Ein Licht, das aus den Mauern Staub schlug, aus Glas, Blech und Keramik feinsten Rhegolith meißelte, der die Luft schärfte, sich an den Wimpern festsetzte, den Blick trübte und in die Lungen drang, bis es war bei jedem Atemzug, als atme man Stein.




Montag, 7. Mai 2007

Lichtwochen und ein Blick (1)

Wochenlang lag die Stadt unter Schleiern, Schlieren, Schwaden aus Licht, dichtgepacktem knisternden Stoff, Schichten des Geleuchts, geologischen Formationen der Helligkeit, die Wetterschlag, Dürre, Wüstenwind, Herzschläge, Abende am Fenster, kriechenden Bierschaum, nie gewechselte Worte und Blicke konservierten, vor dem Vergessen und dem Zerfallen bewahrten, nicht nur bewahrten, sondern ausstellten. Während smaragdgrüne Koffer ihren Glanz verloren und unter schattigverwinkelten Treppenfluchten, in die langsam die Wärme kroch, vor sich hindämmerten.




Donnerstag, 19. April 2007

Wanderkarte (1)

Die Glätte schmiegte sich unter die Finger, die immer noch Feinheit hatten, dünne Kuppen. Das war kühl und unberührt, und der schwache Glanz schmeichelte den Augen, die frischen Farben, das Grün und Braun und Schwarz, das helle der waldfreien Flächen. Langsam fuhr er den noch steifen Falz entlang, nicht zu schnell, Kostbares erprobend, dem Knittern lauschend hingegeben. Man mußte sich Zeit lassen. Man durfte nicht den ganzen Raum auf einmal überblicken und in Besitz nehmen wollen:
Halbverborgen sprangen klaffend die Wege auseinander; Wälder hüpften mit einem Knacken aus der verborgenen Landschaft, wichen Feldern und Felder den Wiesen oder sogar Mooren, Brachflächen ließen sich von Wegen zerschneiden, von Pfaden, von Straßen, von Linien und Spuren, deren Schenkel sich träge öffneten und umherschwangen, um dann in der Bewegung seines Fingers genau im Falz zusammenzutreffen und wieder eins und gemeinsame Bewegung zu werden. Das war schön. Trunken von Form griff sein Blick weiter aus. Da ging es hinaus und fort und man kam irgendwohin. Es roch plötzlich nach Farbe und Stiften und nach Papier, und auch das gehörte dazu.




Freitag, 9. Februar 2007

Ein Schwindel erfaßte den Fremden

Von meiner Wohnungstür waren es nur drei Schritte an den gewaltigen Müllcontainern vorbei zum Sturzblick auf die Burgstadt, hinab und wieder steilauf, das hohe Gold, die dunkle Flagge, den erleuchteten Himmel darüber. Da blieb ich oft stehen, während eine Katze nebenan davonglitt und im Schatten eines Wagens verschwand. Unten, nachts in Goldfolie eingeschmiegt, tags je nach Licht versunken in den eigenen Fels, oder den Himmel darum, oder verkantet von rotem Schatten, lag der Tempel. Unten und doch oben, drüben, von Hügel zu Hügel geschaut, wo ich stand. Die Katze sprang davon, man klimperte mit Besteck, Fisch und Knoblauchduft, ein Hauch von Wein und Lauch wehte vom Restaurant an der Ecke.
Meistens ging ich zur Nacht, die früh kam in jenen Breiten, und es wurde ja wieder Herbst, wenn auch das Gefühl für die Jahreszeiten durcheinanderkam, die Wärme, das Mittagslicht, die Düfte, nichts stimmte, und doch wehte Laub, leuchtete manch gelbroter Baum, duftete die Erde, wo sie frei lag, im Regen. Ein Schwindel erfaßte den Fremden, eine Verwirrung, eine Seekrankheit der Zeit.




Freitag, 5. Januar 2007

nachts. in den straßen

Ich blieb stehen. Die Nacht peitschte weiter. Ein Wind kam von See, wirbelte Dunkelheiten verschiedener Färbung und Schwere an mir vorbei, leise Stimmen an die gesättigte luft abgebend, so daß die Laternen straßauf straßab zu flackern schienen; doch waren es nur Herden von Käfern, die staubig und wie eine bewegte Verschmutzung der Nacht, aus der das Licht der Lampen floß, um die Pfähle und Schirme schwirrte. Ab und zu brummte es, wenn ein gepanzerter Leib silbrig gegen das Licht schlug und torkelnd wieder vom Dunkel zurückgenommen wurde, das ihn Sekunden zuvor losgeschickt hatte. Die Flügelpaare knisterten.
Manchmal wogte ein Platz von Stimmen, klangen Spiegelungen von Weingläsern, Auslagenfenstern, Vitrinen mit Fisch und Meeresfrüchten, zuckte Neon in grün, rosa, blau, spiegelte sich Uhrglas und Brillenbügel und Frauenschmuck in zitternden Pfützen, denn die ersten Regenfälle waren eben gewesen.





Mittwoch, 25. Oktober 2006

mittagsprogramm

Auf dem Parkett lag ein flacher Schimmer, einer von denen, wie sie an Wolkentagen manchmal geisterhaft und dünn auf Böden, Wänden, Veilchen und Bücherregalen zu sehen sind, wo sie sich ganz kurz nur zu erkennen geben, um es sich gleich wieder anders zu überlegen und hastig zu ermatten, als habe sie eine Bewegung, ein lautes Wort, das Knacken des Fensterrahmens, ein rascher Atemzug, eine Fliege oder die Anwesenheit Verstorbener erschreckt. Das Holz schien für einen Augenblick wie poliert zu glänzen. Irgendwo oben im Haus durchkreuzten Schritte dunkler werdend ein Zimmer. Eine Frauenstimme rief etwas. Die Schritte liefen zurück. Ein schwaches Gemurmel antwortete. Es klang wie damals, wenn man einmal als Kind krank im Bett lag und das Fieber die Ausmessungen der Zimmer so veränderte, daß die Stimmen aus Küche und Flur verworren in Traum und Halbschlaf aus dumpfen Fernen ins Halbbewußtsein drangen. Abermals Gemurmel. Schritte. Tack tack teck tick, leiser werdend. Tick teck tack tack, lauter. Der Vorhang neigte sich still. Der Schein sank in sich selbst zurück, der Glanz auf dem Parkett erlosch. Die Farbe grau, so ein Grau, wie es nur nach dem Erlöschen von Licht (auf einem Parkett, auf einem schlammigen Fluß, auf Blattgrün, auf dem Meer an Wintertagen) zu sehen ist.
Endlich aus dem Radio die bekannte Harfe, das Mittagsprogramm. „Και μες στην τέχνη πάλι …“ – Müde ließ ich mich aufs Bett fallen. Eine Autohupe dröhnte leise.
Was bedeutete das alles?
Ich schlug die Hände vors Gesicht.
Was bedeutete das alles?
„Και μες στην τέχνη πάλι, ξεκουράζομαι απ' την δούλεψή της …“

.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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