Werke & Tage

Dienstag, 19. Oktober 2010

Bei solcher Witterung. 8:58

Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.

Donnerstag, 7. Oktober 2010

Warum machen die das?

Einen Marathon laufen, den Everest besteigen, die Wüste Gobi zu Fuß durchqueren, auf Schusters Rappen von Berlin nach Moskau reisen, die Eigernordwand klettern, mit dem Tretboot über den Atlantik fahren – kein Gespräch über diese Freizeitaktivitäten, ohne daß die Frage aufkäme: Warum machen die das?
So auch neulich beim Kaffee mit Eltern und einer Freundin meiner Mutter, wir sprachen über mein Steckenpferd, und natürlich, warum mache ich das?
Klar, für den, der das nicht kennt, nicht gemacht, nicht erlebt und nicht geschafft hat, mag es höchst fragwürdig scheinen, warum man sich das antut. Zweiundvierzigkommaeinsneunfünf Kilometer in einem Stück laufen. Das bedeutet: Im Winter bei Regen und Schneematsch, im Sommer bei Hitze durch den Wald rennen, morgens schon Spaghetti in sich hineinstopfen, literweise Wasser trinken, Trainingspläne abarbeiten, Pulskontrolle, Laktattest, Tempoläufe und langsame Läufe, weite Läufe, kurze Läufe, Monate lang, morgens um sechs oder nachts um zehn, wenn’s nicht anders geht, dreimal die Woche, viermal die Woche, sechzig, siebzig, achtzig Kilometer abspulen – nur um dann hunderzweiundzwanzigster von über 200 zu werden und mit Achundkrach bei 3:45 über die Ziellinie, nein, nicht zulaufen, wanken wäre das bessere Wort.
Der läuferische Erfolg im Wettkampf, wenn nicht Erster, so doch wenigestens Zweiter, von mir aus auch Dritter werden, das würde wohl die Strapazen nach außen rechtfertigen, hätte Bestand vor der Welt. Aber unter tausenden irgendwo als Herr Unbekannt, im Wortsinne unter „ferner liefen“, grandios unbeachtet und grandios erschöpft gegen sich selber kämpfend die Strecke zu bewältigen? Was soll’s?
Meine eigene persönlich Antwort auf diese Frage ist knapp. Sie lautet: Weil ich es kann. Aber darum soll es gar nicht gehen.
Sondern um eine beiläufig gemachte Bemerkung von A., der Freundin meiner Mutter. Manche Männer, so die weltläufige Auskunft A.s, bekämen ja so im Alter zwischen vierzig und fünzig einen Rappel, früher super sportlich, seit Jahren nix mehr gemacht, der Bauchansatz unverkennbar vorhanden, der Optiker droht mit der Lesbrille – und nun wollten sie es noch einmal richtig wissen, sich und anderen beweisen, daß sie noch knackig und jung sind und keinesfalls auf dem absteigenden Ast.
Das ärgerte mich.
Als erstes die versteckte Behauptung, sehr wohl seien diese Männer auf dem absteigenden Ast. Sie wollten es nur nicht wahrhaben. Dann: Zwar befinde ich mich erst an der Untergrenze zu dem von A. erwähnten Alter, aber es trifft trotzdem, und es wird mich in Zukunft noch mehr angehen und vielleicht wird dann diese Vermutung auch von anderen geäußert werden, dann aber – nicht so wie bei A., die es eher allgemein und ohne konkret mich zu meinen, dahergesagt hatte – in Bezug auf mich.
Warum ist das ärgerlich? Es klingt nach dem Vorwurf einer unlauteren Begründung, der Selbsttäuschung, des schwachen Selbstbewußtseins, es macht die marathonbegeisterten Männer zwischen vierzig und fünfzig klein, indem es ihre Anstrengungen in dieselbe Schublade einsortiert wie der Griff zu Haarwuchsmitteln oder die Zuflucht zum Comb-over. Es macht ihre Ambitionen lächerlich und spricht ihnen ab, ernstgemeinte Ambitionen zu sein. Denn für die Nichtläufer kann es ja nur einen ernstzunehmenden Grund geben, die Quälerei auf sich zu nehmen, nämlich den Sieg, den objektiven sportlichen Erfolg, den professionellen Erfolg. Wir reden hier schließlich nicht vom Spaß.
Die Bemerkung glaubt also schon, einen Grund zu kennen und läßt diesen Grund zudem nicht gelten. Sie befindet darüber, welches ein richtiger Grund ist und welches nicht. Das ist ein bißchen wie der nervtötende Satz von Hobby- und Teilzeittherapeuten, da stecke doch mehr dahinter – als kämen sie einem bei einer Betrügerei auf die Schliche. Einsortiert werde aber auch ich, insofern wenigstens, als dieselbe Begründungsmaschine auch auf mich angewendet werden kann, es reicht, daß auch ich die „richtige“ Begründung schuldig bleiben muß, den professionellen Erfolg. Insofern steckt also auch bei mir „mehr dahinter“, darf man also Mutmaßungen über mein geknicktes Selbstwertgefühl oder meine Angst vor dem Altern und Abbauen (und wer, bitteschön, hätte die nicht?) anstellen. Und weiter noch: Auch ich lasse mich dann hübsch passend in eine Schublade einsortieren, aus denen mich kein Dementi mehr herauswinden kann. Man glaubt, nur weil ich ein bestimmtes Alter habe und ein bestimmtes Geschlecht, mich schon zu kennen. Da könnte ich mir dann den Mund fusselig reden, geglaubt wird es nicht. Schon deshalb nicht, weil alles, was man vorbringen könnte („Ich benutze Haarwasser nur für die Kopfhaut“, „Ich wende das Comb-over an, weil ich es chic finde“, „Ich benutze Kontaktlinsen nicht, weil ich eitel bin, sondern weil man verzerrungsfrei sieht“, „Ich laufe Marathon, weil ich es kann“) wie eine Rechtfertigung klingt; ebenso wie die Vermutung, das sei alles der Midlife Crisis (schon das Wort ist eine Beleididung) geschuldet, immer einen versteckten Angriff enthält.

Dienstag, 23. Februar 2010

Camping Genienau

Was noch vor ein paar Tagen unbeholfener Versuch war, ein prüfendes, tastenden Stolpern ins Schneelicht des Morgens hinein (man konnte nicht sicher sein, ob man sich nicht verhört hatte), das ist sich, zumindest hier im Rheinland, seiner vergessen geglaubten früheren Virtuosität wieder bewußt geworden, hat den Dreh wieder raus; und so tönt es jetzt aus den Büschen und Bäumen, perlend, hell, kraftvoll und so stolz, als müßte es die Verspätung wieder wettmachen: Die ersten Buchfinken.
Ende Januar war es letztes Jahr schon soweit, in einem Waldstück voller Sonnensäulen und eiskalten Buchenrinden; in der ferne schwebte die Godesburg, angehoben von Licht, während tief unten der Sonntagnachmittagsverkehr blitzte.

Wege von und zu der alten Wohnung. Argelanderstraße. Fluchtgedanken, wirre Pläne von einem Neubeginn, vom Wohnen auf dem Campingplatz oder im Wohnmobil, Ärger auf Nachbarn und den ermüdenden Autoverkehr vor dem Küchenfenster. Ich weiß noch daß ich in jenen Tagen Campingplätze wegen eines Dauerstellplatzes angeschrieben habe, und einmal bin ich sogar runter nach Mehlem gefahren, um mir einen anzusehen, ein trostloses Stück Wiese mit vereinzelten moosüberwachsenen Campinganhängern darauf, wie Findlinge schief und geneigt, die Fenster verrammelt oder blind vor Staub. Die Schranke an der Einfahrt war heruntergelassen und mit einem Vorhängeschloß gesichert, Verbotsschilder, hier gilt die StVO, der Name „Genienau“ krümmte sich, gestützt auf zwei Pfähle, verwittert und unleserlich über den Weg, irgendwo ein Blechschild mit der Hausordnung. Unbefugten Zutritt verboten. Ich ging trotzdem hinein, besah mir die Anschläge und Plakate vor der Rezeption, drückte die Klinke, abgeschlossen, keine Klingel, keine Öffnungszeiten, in den Fenstern undurchdringliche Vorhänge. Ich sah nur mein eigenes ratloses Gesicht in den Scheiben. Auch die Türen der Sanitären Anlagen waren alle verriegelt. Nirgendwo auf dem Platz ein Mensch, in den Hecken eine Menge Spatzen, Möwen vom Rhein, nur draußen auf dem Feld ging eine einsame Frau mit Dackel.

Viel später erfuhr ich, daß das Wohnen im Campinganhänger in Deutschland nur unter strengsten Auflagen möglich sei. Was kann man auch anderes erwarten in einem Land, in dem Wartehäuschen mit einem Spalt für Zugluft versehen und Sitzgelegenheiten auf öffentlichen Plätzen und in Bahnhöfen so unbequem wie nur möglich gestaltet werden, damit nur ja keiner auf die Idee komme, sich dort hinzulegen?
Ich drehte noch eine Runde um das Gelände, stieg den Feldweg hoch zur Straße, fand die Hänge einladend und schön, kehrte zum Fluß zurück. Drüben der Drachenfels, sehr steil, das Schloß auf seinem Gipfel massiv und bedrohlich. Der Rhein hatte wenig Wasser und war braun, spiegellos, in den trockenen Kieseln lag eine milchig abgewetzte Wodkaflasche. Ich begriff, daß ich hier niemals wohnen würde. Nicht am Rhein, nicht in einem bemoosten Wohnwagen auf einem Platz ohne Dusche oder Waschbecken, nicht im Schatten des Drachenfelsschlosses, überhaupt nirgendwo. Traurig machte ich mich auf den Weg von dort, wo ich nicht wohnen würde nach dort, wo ich nicht mehr wohnen wollte.

An jenem Tag also der erste Buchfink. Vor ein paar Tagen bin ich dort auf einem Lauf von Rolandseck nach Hause wieder vorbeigekommen. Das Schloß noch höher, wackelig balancierte es knapp unter den Wolken, die Brombeeren ebenso braun wie vor einem Jahr, von den Wohnwagen fehlten die meisten. Aber die Sonne kam durch, viele Spaziergänger hatten die Hoffnung auf Frühling noch nicht aufgegeben, machten einen weiteren Versuch, und die Buchfinken hatten den Dreh endlich auch wieder raus.

Freitag, 19. Februar 2010

Turdus merula

Und wie die jubelnde Erlösung, die endlich blitzartig die Spannung einer monatelang aufgefluteten, unerträglich gewordenen Stille und Starre löst und in Klang verwandelt, der, in der Dämmerstunde süß aus der Dunkelheit hervorquellend, den letzten, mürbe gewordenen Schlaf durchströmt, die Fensterferne heranholt, nah und näher, innig, ein Fordern, farbig und schalmeienklar, und wie aus dem feuchten Inneren einer hartschaligen Frucht ins Erwachen hinein: die erste Amsel.

Montag, 1. Februar 2010

Eis

bei uns ist es gerade so glatt, daß ich kaum heil über den supermarktparkplatz gelangt bin. vorhin hat es stark geschneit, und obwohl es über null grad sind, hat sich auf dem boden so eine interessante halbgefrorene schmiere gebildet. faszinierend. flocken, firn, flaum. schlunz, schmodder, matsch. weißer matsch, grauer matsch, schwarzer matsch, halbgefrorener matsch. schneewehen, schneeränder, schneekrusten. was für eine vielfalt an erscheinungen. besonders schön: braune pfützen, die gegen alle regeln der physik von unten und oben gleichzeitig zufrieren und eistümpel von geschätzt einem halben meter tiefe bilden. kein mensch würde da freiwillig reintreten. entzückend auch dieser hauchfeiner flaum frisch gefallene flöckchen, der tückisch sicherheit heischend panzerartig-festgebackenes, spiegelblankes, schlittschuhtaugliches eis verhüllt. auch nicht zu verachten: die keramikartig-harte masse, die sich bildet, wenn hunderte von stiefeln den abwechselnd tags auftauenden, nachts wieder festfrierenden schnee feststampfen, polieren und schließlich zu einer art volksbobbahn werden lassen. oder die erstaunlich gefährlichen eisplacken, die, mit salziger schlunze vermischt, ausgerechnet auf treppenstufen zu hause sind. von einem auto, das in eine pfütze brettert, auf dem gehweg mit einer sorbetartigen, graumelierten masse vollgespritzt zu werden, ist auch eine bemerkenswerte erfahrung. abschüssige feldwege, die tatsächlich als rodelbahn in gebrauch genommen werden, taugen gut für den einen oder anderen bein- oder knöchelbruch. da eiert man dann halt so rum auf feldwegen, die den namen "weg" nicht verdienen, über halbgefrorenes, angetautes, im schatten auch noch gletscherartig-hartes eis, und wo kein eis, da ist so ein halbgefrorenes gegriesel, ähnlich diesem grünen oder rosa zeug, das, in malautomaten emsig zerkleinert, in manchen erfrischungseinrichtungen angeboten wird. nur halt in graubraun und ohne zucker, und man kann herrlich reintreten und ohne weiteres bis zum knöchel versinken. schön auch ist schmelzwasser, das, gefangen zwischen zwei schichten eis, sich nicht entscheiden kann, ob es den rest auftauen oder selbst wieder zufrieren soll, und bis zur entscheidungsfindung den feldweg in einem bis weit ins feld ausbuchenden Tümpel komplett abriegelt. wenn man ausweicht, hat man natürlich sofort hübschen riesenklumpen lehm an den schuhen. alles ist naß, trieft, tropft, trauft, schmiert und schlabbert, taut auf, friert wieder, taut wieder auf. dort, wo man gerade noch gehen kann, ist natürlich die abflußschneise für all das wasser, so daß man dann wählen darf zwischen eismatsch und eiswasser. nicht zu vergessen die glasigen und unscheinbaren gletscherchen, die in irgendeiner schattigen ecke lauern, und einen ganz zuletzt, wenn man schon glaubt, den winter überstanden zu haben, doch noch zu fall bringen.
ich finde, wir haben jetzt allmählich alle arten und unarten von wasser in seinen festen und halbfesten aggregatszuständen durch.
es reicht.

Donnerstag, 28. Januar 2010

Griesgram

„Tereeza meinte, du seist manchmal so griesgrämig.“
So, bin ich das, denke ich mit jenem grimmigen Entzücken, das man empfindet, wenn Beobachtungen an der eigenen Person einem über Dritte hinterbracht werden. Zum einen erfährt man, wie es in den Augen der anderen wirklich um einen bestellt ist; zum anderen vermittelt es ein klitzekleines Machtgefühl: Ich weiß, wie du über mich denkst. Selbstredend bin ich überhaupt nicht griesgrämig, jedenfalls nicht nach meinen eigenen Maßstäben, und wenn ich doch mal einen muffeligen Eindruck mache, so hat das immer gute Gründe, die bestimmt nicht in meinem launischen Charakter liegen, sondern im Draußen, das mir nicht wohlgesonnen ist, jedenfalls mir nicht entspricht, kurz: Die anderen sind natürlich schuld. Wahrscheinlich war ich gerade wieder genervt über irgendein Zuviel, als Tereeza mich traf, zuviel Menschen, zuviel Geräusche, zuviel Bewegung, das übliche halt. Oder ich hatte mich, auf dem Weg zur Mensa, wo Tereeza und ich verabredet waren, wieder in eins meiner Streitgespräche mit meinen Lieblingsfeinden verspinstert. Ich erinnere mich, daß ich mich über den niedergetrampelten, zu einer harten, rutschigen Panzerung festgestampften Schnee ärgerte, das heißt, nicht über den Schnee, sondern über das Zuviel an Menschenbeinen, die geglaubt hatten, zahlreich darüber lustwandeln zu müssen, und Tereeza fragte, ja, wo sollen sie denn sonst gehen. Ich verbiß mir die in solchen Fällen einzig richtige Antwort, gar nicht, sie sollen einfach zu Hause bleiben, ich blickte nur finster aus der Wäsche und Tereeza fragte mich, geht’s dir gut? Das meinte sie ernst. Und gestern abend also Krysztof, ob es mir gut gehe, Tereeza habe gesagt …
Insgeheim freue ich mich natürlich über die Aufmerksamkeit, denn nichts anderes will ja meine Verstocktheit, genauer, sie will ebenso sehr in Ruhe gelassen werden wie sie Aufmerksamkeit heischt. Paradox halt. Eine Abwärtsspirale, an einem bestimmten Punkt geht es nicht mehr zurück. Dann bin ich Heathcliff und Rumpelstilzchen in einem. Dann ist alles streitsüchtige Abwehr. Dann möchte ich mich für ein Lächeln hassen.
Ich erinnere mich, wie Tereeza bei anderer Gelegenheit ausrief, wie bist du denn drauf? Es ging um die gemeinsame Bekannte O. O. lebt seit einigen Jahren in Übersee, und obwohl wir vor ihrer Auswanderung befreundet, ich möchte sagen, eng befreundet waren, brach der Kontakt kurze Zeit später ab, was ich nicht allein auf die Auswanderung, sondern auch auf das Kind zurückführe, von dem sie gerade genas, als das Schweigen begann. Keine Zeit, sagte mir später ein anderer Freund, der es verstand, aber das machte es nur noch schlimmer, ich verstehe es nämlich nicht. Jedenfalls erzählte Tereeza, das war auch wieder in der Mensa, freimütig, O. sei im Sommer in Köln gewesen, an der Uni, im Institut, und habe ihr Kind dabeigehabt. Wie man das halt so macht, platzte ich ziemlich unwirsch heraus. Im stillen dachte ich, aha, O. reist nach Europa, nach Deutschland, ja sogar nach Köln, findet tatsächlich Zeit, im Institut vorbeizukommen und ihr Kind zu präsentieren, keine 500 m von meiner Arbeitsstelle entfernt, aber mich davon in Kenntnis zu setzen, nein dazu hat sie keine Zeit. Hauptsache, dachte ich, das Kind wird vorgeführt. Das Kind war mir egal, ich finde, Kinder sind Privatvergnügen, und der Anspruch frisch entbundener Mütter, alle Welt müsse ihren Säugling ebenso aufregend finden wie sie selbst, finde ich gelinde gesagt, unbesonnen. Ich wollte nicht das Kind sehen, aber O., die am anderen Ende der Welt wohnt, mit der ich eng befreundet bin oder war, ja, die hätte ich nach gut zwei Jahren Trennung sehr gerne wiedergesehen. Dachte ich und sagte nur, wie man das halt so macht mit Kindern. Weil mich das wahnsinnig aufregte.
Wie bist du denn drauf? rief Tereeza.
Alles in bester Ordnung, erwiderte ich.

Freitag, 22. Januar 2010

VIA NOVAESIANA

Beim Verlassen der Wohnung fiel es sofort auf. Die Luft.
Sie war grün.
Grün mit einem lebendigen Hauch Gelb darin, aderweise. Sie roch nach Weiden und nach Wald, nach Chlorophyll und ein bißchen nach Fels, nach staubigem, trockenem Fels.
Nicht nur die Farbe und der Geruch der Luft waren anders; der Raum selbst, der sie enthielt, hatte sich verändert, seine innere Struktur und mit ihr die Geräusche, die er trug: Sie hatten eine weitere Strecke hinter sich als sonst, wie ein Ruf aus klarer Ferne, zugleich waren sie schärfer, heller und deutlicher geworden. Der Raum hatte sich von Verwerfungen freigemacht, sämtliche tauben Knoten geglättet und noch ein paar Richtungen hinzugewonnen, in denen jetzt die Klänge hockten: Klopfen einer Fußmatte gegen einen Laternenpfahl; eine Autotür, die ins Schloß fiel; Hundegebell, Schlüsselgeklapper. Alles von weit weg und zugleich klirrend, nah, es war, als habe sich die Luft aus einer staubigen Verpackung herausgeschält.
Die Haustür lachte ein quietschendes Lachen, und während sie wie von selbst aufsprang, schmeckte auch sie die Farbe; und zum ersten Mal seit langer, wirklich sehr langer Zeit ließ sie das Draußen wieder herein, mit offenen Angeln, bis es sich im Flur ausgebreitet hatte, grün, natürlich und mit soviel Raum, daß die Wände es kaum hielten.
Die Haustür, satt und glücklich von soviel Draußen, fiel mit einem hellen Klirren ins Schloß.
Selbst die Klänge schienen heute eine andere Farbe zu haben.
Grün. Der Morgen war grün, grasgrün, mit einer Spur lebendigen Gelbs darin.

Freitag, 6. November 2009

Beim Laufen

Plötzlich flackert da Scheinwerferlicht durch die Bäume, sieht man den fahlen Himmel sich in Windschutzscheiben spiegeln, schimmern metallene Fahrzeugflanken, steht eine Gruppe schwarzuniformierter Männer an einem Lastwagen, der sich beim Näherkommen als Panzerfahrzeug entpuppt.
Unheimlich. Zwei Sendemasten von erheblicher Höhe, 10, 15 Meter, auf Einsatzfahrzeuge montiert, ragen auf. Die ehemalige Straße, wo sonst nur Jogger unterwegs sind oder Fahrlehrer ihren Schülern das Anfahren beibringen, ist abgesperrt. Die Fahrzeuge stehen in den kreuzenden Waldweg hinein und riegeln ihn fast ab, so daß man in den Schlamm der Böschung ausweichen muß.
Ich mag so etwas ja überhaupt nicht. Es reicht schon, um das Gruseln zu lernen, wenn man den Polizeihorden begegnet, die allsamstäglich an einschlägigen Bahnhöfen abkommandiert sind, ich muß nicht auch noch einer Gruppe finster dreinblickender, Krieg spielender Vermummter nach Einbruch der Dämmerung plötzlich im Wald begegnen.
Schon lange nicht mehr im Dunkeln laufen gewesen. Leichtsinnigerweise habe ich die Stirnlampe nicht mitgenommen, und so, das letzte Restlicht am Himmel noch von dichtem Nadelgehölz verschattet, bin ich gut eine Stunde über einen nahezu unsichtbaren Waldweg gestolpert. Nach Einbruch der Nacht ist mit Dunkelheit zu rechnen, weiß der Soldat der Bundeswehr, da ich aber gottlob nicht gedient habe, überrascht die Finsternis einen Ahnungslosen. Da hättem die Vermummten von vorhin mir ja ruhig mal einen Tip geben können.
Später, anhörig des bis ein Uhr früh anhaltenden Hubschraubergedröhns über der südlichen Ville, frage ich mich, ob es da eine Verbindung gibt, und wenn ja, ob man wirklich über dichtbesiedeltem Gebiet den Hubschraubernachtflug üben muß. Ich meine, wo sind wir denn hier, im Hindukusch?

Freitag, 21. August 2009

Albträume

Immer wieder zwischen vergessenen Bildern das fehlende Bein, die Frau, Freundin, Bekannte, ich kenne sie nur halb, die den Fuß verloren hat. Ein Text mit Riesenbuchstaben schwarz und kantig und enggedruckt wie die Warnhinweise auf Zigarettenpackungen, aber keine Warnung, sondern die Feststellung einer Tatsache, „Ein roter Schnitt wird jetzt dein Leben teilen und bestimmen“, das meint den Fuß, sein Fehlen, die Tatsache, daß sie, wer immer es ist, diese Verletzung erlitten hat. Die Folgen dieser Verletzung jetzt aushalten muß, und ich mit ihr. Erschüttert mich bis ins Innerste. Quält mich. Im Traum der Gedanke an Prothesen, klack-klack. Die Hilflosigkeit. Das Nicht-mehr-Gehen-können.

Ich erwache, alles nur ein Traum. Bevor ich aber richtig erleichtert sein kann, schlafe ich wieder ein, und alles geht von vorne los. Diesmal fehlt der Fuß jemand anderem, einer Frau auch diesmal, die ich jedoch noch weniger kenne als die erste. Sie spricht davon, erzählt das Unglück, burschikos, wie man über ein kleineres Mißgeschick spricht. Meine Erschütterung genauso tief wie die des ersten Traums.

Dann Szenenwechsel. Meine Vermieterin spricht mir und meinen Eltern die Kündigung über unsere Wohnung aus, und es ist die Vermieterin, mit der ich in Wirklichkeit seit Juli einen Vertrag habe. Wir müßten das dann noch unterschreiben sagt sie und gibt uns mehrere unterschiedlich lange Plexiglasplatten, auf denen vermutlich irgendein Text abgedruckt ist. Ich habe den Hintergedanken, vielleicht noch einmal mit der Vermieterin zu sprechen und zu einer Einigung dahingehend zu gelangen, daß ich alleine doch wohnen bleiben darf, daß für mich also eine Ausnahme gemacht wird, ein Vorzug.

Später laufe ich in einem Gewächshaus und bin ganz enttäuscht über die kurzen Strecken, und daß man sich auf so kleinem Raum ja unmöglich verausgaben könne. Fast ist es ein Traum, wo man nicht vorankommt, die Beine nicht vom Boden lösen kann. Dahinein mischt sich noch ein weiteres Bild, eine Frau in einem Bus auf dem Platz neben mir, eine Schwarze mit langem Kraushaar, sie weint, und ich versuche sie zu trösten, sie sagt, es ist nicht deswegen, es ist, weil sie Angst um ihren Job hat. Das ist mir unangenehm, ich weiß, daß ihre Angst berechtigt ist, und kann ihr nicht helfen, nicht einmal Mut machen.

Donnerstag, 20. August 2009

später

und plötzlich erwacht man und alles ist ein danach, ein später.

wohin man geht, ist garten, ist umgrenzung, rand. hof oder schatten, alles verweist selbst noch in der sonne und auf dem hügelkamm auf ein draußen, das hier nicht zu finden ist. aber auch nicht dort oder drüben, nirgends. draußen. damaliges außen. jetzt säuselt noch etwas hallendes, wie aus weiter ferne oder ferner zeit, oder einsam in einem großen, weiten und klingenden raum. und später, die zeit überreif verfärbt wie liegengelassenes obst, läuft von einem punkt weg, auf den sie, früher, davor, eben noch, wann? zugeeilt ist.

da wird der sommer zum abbild seiner selbst, zu einer geste, dahinter die jahreszeit und überhaupt jede zeit, verschwindet.

eingesperrt in den höfen die stille, die sich an einem augenblick im dunstigen mittag zu erkennen gibt. im verborgenen gewirkt, reif geworden, hat sie sich das alter früherer sommer, vergangener, zu eigen gemacht. so spricht sie mit den offenen schnäbeln der vögel, die zu schweigen verstehen. ein flattern im gesträuch, wippende äste. anwesenheiten. geschöpfe (oder geister?) die sich nicht preisgeben wollen. die beeren, ein leuchten von gestern. die amseln: als warteten sie auf ein signal. ein zeichen wofür?
wie aus papier stehen die straßen, ihre sprödigkeiten erzählen sich farben, die schon verblaßt sind. alles ist erzählung dieser tage. erinnerung an erinnerungen. das licht, wie es staubig von den fassaden zurückfällt, ist ein zitat, das glitzern auf dem ententeich ruft sich selbst in erinnerung, alles, was jetzt grün ist, verdankt sich einem vergessen. liegengeblieben das gelb des greiskrauts und des rainfarns an den knisternden wegrändern, die vergessen haben, wohin ging es noch gleich? unsichtbar an den kehren ein rascheln von schritten, das nie näherkommt und sich nicht entfernt. ein augenblick des wegsehens und die violetten tüten des riesenspringkrauts dürfen noch bleiben und bleiben übrig. vermutlich sind sie morgen auch noch da.
zwischen dem anhaltenden sonnenlicht und den gegenständen, die es zurückwerfen, verspinnt sich die erinnerung einer farbe, einer schwierigen farbe, der farbe nicht eines gegenstands, einer zeit selbst nicht, sondern die einer mischung, einer summe: die aller spät- und nachsommer, die schon gewesen sind, und die in jedem weiteren sommernachhall wieder zur sprache kommen müssen.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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