Mittwoch, 17. November 2004

Hörnerparadoxie

Neulich im Lateinseminar. Die Rede kommt auf Chrysippos, einen hellenistischen Philosophen. Der Professor, Herr F., berichtet, von Chrysippos sei folgendes Zitat überliefert. Man hört förmlich die Anführungszeichen. Dann trägt er vor:

„Wenn Du etwas nicht weggeworfen hast, so hast du es noch.“

Brüllendes Gelächter füllt den Raum. So ist das also. Ja ja, die Alten. Wirrköpfe alle miteinander. Aber es geht noch weiter. Herr F. wartet, bis die Heiterkeit abgeklungen ist, dann fährt er fort:

„Hörner hast du nicht weggeworfen. Also hast du Hörner.“

Dann steht er auf, wechselt in gewohnter Manier Lesebrille mit Fernsichtbrille, schaut in die Runde.

„Widerlegen Sie das mal“, sagt er ernst.

Meine Hand will schon hochzucken, da geht Herr F. aber schon zu etwas anderem über. Die Widerlegung sei daher hier nachgeholt.

Es handelt sich hier um ein Beispiel aus einer ganzen Reihe von Paradoxa, die immer demselben Schema folgen: Ein auf den ersten Blick schlüssiges Argument führt in einen unakzeptablen Widerspruch zur Erfahrung. Berühmtestes Beispiel ist wohl das vom griechischen Philosophen Zenon formulierte Schildkröten-Paradox. Der aus akzeptablen Prämissen gezogene Schluß scheint gültig, widerspricht aber der Erfahrung – wir wissen ja, daß der schnellere Achill die langsamere Schildkröte einholen muß.

Es gibt nun prinzipiell zwei Möglichkeiten, eine solche Paradoxie aufzulösen. Entweder ist der Schluß falsch, oder in den Prämissen ist der Wurm drin. Es wäre also entweder zu zeigen, daß wir empirisch unrecht haben, und es sehr wohl gilt, daß der Nicht-Entsorger von Hörnern welche hat; oder aber es müßte gezeigt werden, daß die Voraussetzung falsch ist. Da ich mich aus guten Gründen weigere zu akzeptieren, daß ich Hörner besitze, bleibt also nur die zweite Möglichkeit.

Sehen wir uns das Schlußschema genauer an. Chrysippos arbeitet mit zwei Prämissen. Erstens: Wenn einer etwas nicht wegwirft, dann hat er es noch. Zweitens: Hörner hast Du nicht weggeworfen. Da wir die zweite Prämisse Hörner hast du keine weggeworfen als wahr akzeptieren müssen, bleibt nur die erste Prämisse, Wenn du etwas nicht weggeworfen hast, so hast du es noch. Daß diese Prämisse falsch ist, ist sehr einfach zu zeigen. Wir müssen uns dazu nur fragen, was den Satz Chrysippos hat keine Hörner weggeworfen widerlegt. Offensichtlich doch nicht, daß er noch welche hat: Denn Chrysippos hat durchaus auch dann keine Hörner weggeworfen, wenn er nie welche besessen hat. Mit anderen Worten, der Satz Chrysippos hat keine Hörner weggeworfen ist nur dadurch zu widerlegen, daß man ihn dabei beobachtet, wie er sich der Stierzier gerade entledigt. In allen anderen Fällen, sei es, daß Chrysippos Hörner hat, sei es daß er nie welche besaß, ist der Satz Chrysippos hat keine Hörner weggeworfen wahr. Also folgt aus diesem Satz auch nicht, daß er jemals Hörner hatte. Folglich ist die Prämisse falsch.

Man kann Beliebiges nicht wegwerfen. Tatsächlich kann man unendlich oft unendlich viel nicht wegwerfen. Gerade in diesem Augenblick beispielsweise werfe ich gerade eine Million Euro nicht weg. Dazu muß ich sie nicht gehabt haben. Ich kann alles mögliche nicht wegwerfen. Ich kann auch nicht-nach-Shangri-La-zurückkehren, weil ich nämlich nie da war. Ein weiteres Beispiel besteht darin, über Nichtvorhandenes Aussagen zu treffen, etwa Kein Gürteltiere in der Kathedrale von Chartres spricht fließend Altpersisch. Natürlich ist der Satz wahr. Widerlegen kann man ihn nur, wenn man ein Gürteltier, das fließend Altpersisch spricht, in der Kathedrale von Chartres auffindet. Findet man dort keins, ist der Satz wohl oder übel wahr.

Warum aber lassen wir uns so leicht hinters Licht führen, so daß uns die Hornprämisse zunächst als wahr erscheint? Das hängt damit zusammen, daß wir sprachliche Ausdrücke immer in ihrer plausibelsten und nicht in jeder ihrer logischen Möglichkeiten interpretieren. Umgekehrt wäre es irreführend, etwas zu behaupten, das zwar streng logisch nicht falsch, jedoch hochgradig uneinsichtig bzw. kommunikativ sinnlos ist. Nehmen wir als Beispiel den Ausdruck etwas wegwerfen. Er setzt die Existenz eines Gegenstandes voraus, der weggeworfen wird. Der Ausdruck Chrysippos wirft Hörner weg ist wahr genau dann, wenn Chrysippos Hörner wegwirft. Dazu muß er aber welche haben, sonst kann er sie nicht wegwerfen. Wie sieht es nun mit der Verneinung dieses Satzes aus? Chrysippos hat keine Hörner weggeworfen. Die plausible Interpretation nimmt auch in der Verneinung an, daß Chrysippos Hörner hatte. (Denn warum sollte sonst jemand von Chrysippos’ Hörnern sprechen?) Das heißt, in der plausiblen Interpretation bleibt die Voraussetzung für die Wahrheit des bejahten Satzes (Chrysippos hat Hörner weggeworfen), wenn er verneint wird, erhalten. Der Hörer des Satzes Chrysippos hat keine Hörner weggeworfen nimmt zurecht an, daß Chrysippos welche hatte. Warum? Weil es nicht kooperativ wäre, zu behaupten, Chrysippos habe keine Hörner weggeworfen, wenn er tatsächlich nie welche hatte. Genausogut könnte man von Chrysippos’ Hörnern alles mögliche in Verneinung aussagen, ohne Lügen zu verbreiten, beispielsweise, daß Chrysippos seine Hörner nicht lackiert habe, daß er sich seine Hörner nicht gebrochen habe, daß er sich um seine Hörner kein rosa Schleifchen gebunden habe etc ad nauseam. Alle diese Sätze sind wahr. Nur besagen sie nichts. Sie sind irreführend, da sie beim Hörer die Vorstellung erwecken, Chrysippos besäße Hörner. Diese Erwartung macht sich der Philosoph zunutze, um den Leser in einen Trugschluß zu locken.

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