Dienstag, 18. Januar 2005

Tränenkiefer

Beim Hinausgehen fällt der Blick ins Leere. Ein Platz spannt sich, ein großer Schwung Himmels tut sich auf, wo vorher … ja, was war denn vorher hier? Hier war doch nie so viel Weite, so viel Sturzferne, hier war doch etwas, das begrenzte, dunkel war, Schatten warf. Etwas, das den Blick kleinräumig auffing. Gewächs, Blatt?fficeffice" >

Die Weidenbäume. Jemand hat sie übernacht, so scheint es, heimlich, diebisch, verstohlen, merken solls keiner, abgehauen.

Jetzt die lächerlichen Spiegelungen des Blechs auf dem Parkplatz plötzlich so blank: ein Grinsen von lackblitzender Selbstgefälligkeit. Unbeschattet baumlos bleckt und bellt es hämisch zum Himmel empor.

Am Montag auf dem Weg zum Bahnhof drängt sich etwas zaghaft in meinen Augenwinkel, während ich an der Ampel warte, und nachdem ich den Kopf gewendet habe, will ich es erst gar nicht bemerken und brauche Augenblicke, um zu sehen: Ein Fehlen auch hier. Was fehlt, begreife ich indes sofort, vor kurzem erst hab ich ihn bewundert und mich gefragt, ob das jetzt wirklich so einer sei, dessen Name mir zwar sofort auf die Zunge springt, aber sicher bin ich mir nicht, Pinus wallichiana, und bewundert habe ich ihn, weil Nadelbäume in der Stadt oft so kränklich aussehen, so zerzaust von Rauchgas und kastriert vom Klammergriff des Asphalts an den Wurzeln. Dieser hier nicht. Voll und langnadelig glänzt sein Laub (Immer zwei Nadeln aus einem Ansatz, was ihn zu einem Vertreter der Gattung Pinus macht) und fällt wie Strähnen silbriggrünen Haars büschelweis über die Zweige. Glänzte, fiel, denn da, wo er noch vor wenigen Tagen stand, ist jetzt nur blanke Häuserfront hinter schaukelnder Straßenlaterne, nicht einmal den Stumpf haben sie gelassen, eine braunzerwühlte Erdwunde krümmt sich im jetzt leeren Vorgarten, als hätten sie, wer immer es war, die ihn umgehauen, ihn mit Stumpf und Stiel beseitigen, vernichten, ausmerzen wollen. Als wäre es nicht genug gewesen, ihn abzusägen. Als hätte er die Gabe, wiederzukommen, auszuschlagen noch einmal grün und stark und frisch aus der harzblutigen Stumpf.

Wie immer bei solchen Gelegenheiten, bei solchen Vorfällen setzt sich in mir das Gefühl fest, bis es zur Überzeugung wächst, daß alles immer weniger wird.

Donnerstag, 13. Januar 2005

Suchbegriffe

Da ist jemand von den Suchwörtern "Erasco" und "Stipendien" auf diese Seiten geführt worden. Das stimmt mich nachdenklich. Wenn es wenigstens "Erasmus" gewesen wäre. Ich kann mir gut vorstellen, auch wenn ich es nicht beschwören könnte, daß a.a.O. das Wort "Erasmus" gefallen ist, zumindest hätte es gut fallen können. Bei der Gelegenheit fällt mir auch ein, daß ich mal etwas zur Aussprache des Altgriechischen schreiben könnte, bekanntlich hat sich auch Erasmus dazu geäußert (und damit eine grauenhafte phonetische Wirklichkeit geschaffen, die an deutschen Gymnasien immer noch und wohl bis auf nicht absehbare Zeit angetroffen und gehört werden kann). Dies ist wohl wieder mal eine Instantiierung des allgemeinen Problems, daß Philologen hierzuland jeglicher moderner Sprachwissenschaft (und auch weniger moderner) bis zur Anathematisierung und Verfluchung abhold sind. Besonders, wenn es darum geht, "alte" Sprachen als echte Sprachen (und nicht als Literaturerzeugungsmaschinen) aufzufassen und sich ein bißchen Mühe mit dem Versuch zu geben, sich vorzustellen, wie die antike Sprach- und Sprechwirklichkeit ausgesehen haben könnte. Und dazu gehört eben auch die (mit guten Argumenten einigermaßen rekonstruierbare) Aussprache. Statt dessen pflegen die Philologen selbstverliebt ihren furchterregend germanisierten Zungenschlag und regen sich über jede falsche Länge oder Kürze auf ("homerische Eppen", "Vohx", "Loggik", "Aristottelehs"), während sie über das Zäpfchen-r ebensowenig mit der Wimper zucken, wie ihnen die rheinische Sch-Aussprache des griechischen chi ("Es-schatologisch") auch nur ein Brauenheben wert ist.

Wie also "Erasco", eher bekannt für Suppenfertigprodukte aus Tüte oder Dose als für die Etablierung einer kanonischen Aussprache ausgestorbener Sprachen, in meinen Hain geraten ist, ist mir ein Rätsel.

Oder Meinten Sie vielleicht 'Erasmus'?

Freitag, 7. Januar 2005

Flora

Vor dem Fenster schimpft schon die längste Zeit eine Amsel. Regelmäßig fünf bis sieben harte Schläge, unterbrochen von sekundenlangen Pausen. Noch ist es ganz dunkel. Irgendwo lauert wohl ein unsichtbarer Amselfeind.

Ich denke daran, wie wir uns leise und klein machten, als könnten wir, die wir ja keine Amselfeinde waren, uns dennoch unsichtbar, unmerkbar machen, uns ins Dunkel einwühlen und still sein, still sogar für die feinen Sinne der Amseln. Vielleicht gelang es uns, und das Geschimpfe galt der Katze, die immer auf dem Weg blieb. Ich denke daran, daß dieser Ort, die Kölner Flora, ein verzauberter Ort sein muß ... oder war es anders? Haben wir ihn verzaubert, oder sind wir selbst die verzauberten?

Drachen

Schon der Speichel eines Komodo-Warans (Varanus komodoensis) sei tödlich, erfahren wir in Douglas Adams Buch "Last Chance to See". Auch wenn diese Echse kein Feuer speie, so habe sie jedenfalls den schlechtesten Atem aller dem Menschen bekannten Tiere.

Die im englischen mit dem weit eindrucksvolleren Namen "Komodo dragon" bezeichnete Kreatur ist die größte lebende Echse der Erde. Es sollen Exemplare von bis zu drei Metern Länge und 100 Kilogramm Gewicht beobachtet worden sein. Vereinzelt sind schon Menschen von Komodo-Waranen angefallen und verspeist worden. Selbst die lieben Kleinen sind vor ihren Eltern nicht sicher, welche gern ihren eigenen Nachwuchs aufessen -- weshalb der sich bis er ausgewachsen ist, auf Bäumen tummelt, die von erwachsenen Exemplaren nicht erklettert werden können. Man muß sich nur zu helfen wissen.

Übrigens weicht das Gewicht eines satten Warans von dem eines nüchternen erheblich ab. Das Kriechtier vermag nämlich etwa sein eigenes Körpergewicht in einer Viertelstunde hinunterzuwürgen: Fleisch, Knochen, Fell, keine Reste.

Allerdings ist es dann für gut zehn Tage satt.


Varanus komodoensis

Montag, 3. Januar 2005

Donnerstag, den 30. Oktober 2003

Vor einiger Zeit – es ist schon eine Weile her, kann sein, es war letztes Jahr – ereiferte ich mich M. gegenüber über Veränderungen und Neuheiten, die anzunehmen oder gar willkommen zu heißen ich mich immer stärker sträube. Es falle mir zunehmend schwer, hinzunehmen, daß die Dinge sich änderten, klagte ich; ich sei immer weniger bereit, Entwicklungen – sich abzeichnenden oder bereits vollzogenen – gelassen zu begegnen. So oder ähnlich drückte ich mich aus. M kommentierte dies halb scherzend, halb im Ernst mit dem Hinweis, ich würde eben alt. Dabei sagte er dies in einem Tonfall, als müsse er mir lachend etwas hinlänglich Bekanntes auseinandersetzen; als sei es ein Versehen von mir gewesen, dies nicht schon selbst längst bemerkt zu haben.

Dies ärgerte mich. Nicht so sehr, weil es stimmt, daß ich älter werde (wer wollte das bestreiten, und wem ginge es anders?), sondern weil mit dieser Bemerkung meinem Protest nicht nur jede Begründbarkeit und Rationalität an sich, sondern, noch schlimmer, weil damit meiner Haltung, sei es Ablehnung oder Zustimmungen, jedes Verankertsein in meiner eigenen Persönlichkeit, jeder individuelle Ursprung in mir selbst abgesprochen wurde. „Du wirst halt alt“ bedeutet: Nicht weil ich so bin wie ich bin, lehne ich irgend etwas ab; die zunehmende Verärgerung über die stillschweigenden Übereinkünfte der Menschen um mich herum, die ich nicht teile – sie ist nicht Teil meiner persönlichen, unverwechselbaren Entwicklung, sondern ich bin selbst nur eine Instanz, in der sich ein überindividuelles Phänomen instantiiert; mein Weigern ist nicht mehr mein ureigenes Weigern, sondern aus allgemeinen Grundsätzen des Menschseins ableitbar. So hat meine Meinung mit mir gar nichts mehr zu tun: Sie hat ihr Gewicht als Meinung verloren, ist zum bloßen Symptom geschrumpft – und deshalb belächelbar geworden. Wie aber kann ich mich wehren, wenn man mir sogleich das immerwahre und alleszerschmetternde Duwirsthaltalt entgegenstemmen kann? Einmal abgesehen davon, daß dies auch überhaupt keine ernstzunehmende Entgegnung ist, denn indem ich meine Meinung äußere zu Mobiltelephonen, Werbepausen, der Programmänderung des WDR oder der Unart, zu Milchkaffee nur noch Latte Macchiavelli oder so ähnlich zu sagen, bitte ich schließlich meine Gesprächspartner nicht, mir doch zu erklären, warum ich dieses seltsame Gefühl gegenüber Mobiltelephonen, Werbepausen etc. habe; ich will doch nicht wissen, was mit mir los ist, daß ich nicht jeden Quatsch, dem meine Mitmenschen besgeistert nachlaufen, prima finde; ich mache mir doch keine Sorgen um meine eigene Ansicht! „Ach bitte, lieber M., sage mir doch, warum, ach warum nur finde ich Mobiltelephone albern? Was stimmt mit mir nicht? Was ist nur mit mir los?“ -- Nein, ich möchte doch etwas von mir und meiner Haltung dieser Welt gegenüber schildern, wie es jeder Mensch gerne tut. Muß ich jetzt jeden modernen Mumpitz gut finden, weil eine andere Meinung zu haben mich sogleich dem Verdacht der Alterskauzigkeit aussetzte? Muß ich zu allem ja sagen, weil eine andere Meinung zu haben mir – quasi aus Altersgründen – nicht zusteht? Weil eine andere Meinung als die, welche hinsichtlich der Erwartungen meiner Zuhörer „originell“ wäre, wertlos ist?

Was bedeutet das überhaupt für das Älterwerden? Es bedeutet doch, daß ein Mensch, der eine zu seinem Alter zufällig, aber nicht kausal passende Meinung hat, diese besser verschwiege. Originell ist ein Neunzigjähriger im ICQ, ein Neunzehnjähriger nicht. Originell ist ein Vierzehnjähriger, der sämtliche Mozart-Klavierkonzerte nach Nummer und Köchelverzeichnis kennt, ein Fünfzigjähriger nicht. So daß wir uns anheischig machen, den einen zu bewundern, des anderen Vorlieben und Ablehnungen aber als normal, weil angeblich kausal aus seinem Lebensalter herleitbar, zu bezeichnen und darüber nur die Achseln zu zucken. „Wirst halt alt.“

Nun gut, zugegeben: M.s Äußerung bezog sich nicht auf irgendeine meiner Abneigungen den Errungenschaften der modernen Welt gegenüber, sondern auf den Umstand meiner wachsenden Gereiztheit über diese Dinge. Sein Spott hatte eine allgemeine Haltung zur Welt und zu Veränderung überhaupt als Gegenstand. Aber mein Vorwurf bleibt. Und der Schluß, der für mich daraus zu ziehen ist, auch.

Ich werde mich in Zukunft vorsehen und alles mit sauberen Gründen unterfüttern müssen – sofern man saubere Gründe finden kann, denn es gibt ja einen Bereich, in dem nur bloßes Behaupten möglich ist, und das ist das Reich der ästhetischen Urteile. Es ist unmöglich zu beweisen, daß meine Geschmacksurteile ihren Ursprung in meiner eigenen Persönlichkeit haben und nicht erklärt werden können – denn aus der Sicht dessen, der urteilt, ist das Urteil immer ein persönliches Urteil. Ein ästhetisches Urteil kann – da es nicht begründbar ist – jederzeit als Symptom angesprochen werden und ist daher besonders anfällig für die Geringschätzung durch jene, die es aus welchen Gründen auch immer nicht gelten lassen und es daher lieber aus groben Eigenschaften des Meinungsträgers, die er mit vielen anderen teilt, ableiten wollen: aus dem Alter, der sozialen Schicht, dem Geschlecht, dem Elternhaus, was weiß ich. Wie, du liest gerne Fontane? Das ist doch nur, weil deine Eltern zur Bourgeoisie gehören! – Wenn man nun wirklich aus bürgerlichem Hause stammt, hat man es schwer darzutun, daß man Fontane einfach mag. Vielleicht mag man ihn auch nur deswegen, oder man hat ihn nur deswegen kennenlernen können. Alle unsere ästhetischen Urteile gründen natürlich in unseren Anlagen und unserer Biographie. Daran ist nicht zu rütteln. Aber das Nichternstnehmen durch den anderen bleibt. Na, kein Wunder, T.Th. wird halt alt. Wenn ich die Vorlieben und Abneigungen meines Gegenüber aus irgend etwas Allgemeinem abzuleiten und zu erklären mich anheischig mache, dann nehme ich ihn nicht länger zur Kenntnis: Ich interessiere mich nicht mehr dafür, warum er diese Meinung, dieses ästhetische Empfinden hat. Ich mache es mir einfach. Ich gehe über ihn hinweg. Seine Meinung ist dann sauber in einer Schublade, ist eine Meinung von Leuten, die x sind, oder von Leuten, die aus y stammen. Von Leuten, die halt alt werden.

Ein Neunzehnjähriger würde ja auch nicht solche Texte wie diesen schreiben. Aber klar, ich werde halt –

Ach, zum Teufel.

Sonntag, 2. Januar 2005

...

Mit allen Nerven Dir lauschend, wie ein diesmal heiterer Seismograph, so fühlte ich mich, und so saßen wir, noch im Gestern halb und schon im Heutemorgen, mit all seinen Fragen und Möglichkeiten und Hoffnungen und Ängsten, saßen und aßen und musterten und sprachen, und du mir in schwarz und Blüte und Lächeln gekleidet gegenüber, sagtest Kluges und was sich warm anfühlte, während ich schlaftrunken hellwach war, und warm, und vom Winterlicht zwischen den Wolken durchsonnt bis ins Herz.

Ich greife mir das Büchlein, und die Fuchsgedanken klingen, als seien sie für uns ersonnen und geschrieben worden. Du erzählst es mir, wie du dich fühlst, Reh oder Löwin oder Häsin bist du, und wieder verstehe ich. Oder glaube es zumindest zu verstehen.

Auf der Heimfahrt dann tatsächlich ein herrlicher Regenbogen.

Dienstag, 21. Dezember 2004

Ethologie

Gestern ein Kurzflirt (wenn man das schon so nennen kann) mit C, was ungemein wohltut und mich für wenige kostbare Augenblicke schweben und heiter sein läßt. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, wenn denn einmal meine sporadisch auftretende Schlagfertigkeit über mich kommt, überrascht sie mich selbst. Ich verfüge nicht über sie, sie ist wie etwas außerhalb meines Willens, Geistesblitz und Inspiration, als spräche nicht ich, sondern etwas in mir, ein kleiner Flirtsouffleur. Eine launische Gabe allerdings, auf die ich mich wahrlich nicht verlassen kann. Und so ist sie denn auch meist stummgeblieben im entscheidenden Moment.

Ich wünschte ich verstünde das Balzverhalten der Spezies, der auch ich angehöre. Man stelle sich ein Pfauenweibchen vor, das den Federkranz des Männchens zwar sieht, aber absolut nicht weiß, was das soll, weil sie nur einen bunten Kranz Federn sieht, wo andere Weibchen ein Zeichen wahrnehmen. Wie leicht wäre alles, verstünde ich die Sprache von Blick, Geste, Mimik, Lächeln und die wahre Bedeutung von Wann, Wie, Wo und Was des gesprochenen Wortes. Ich stochere nur darin herum, werfe zergrübelt Frage um Frage auf, und deute in einem fort die Symbole, wie eine Art Kabbala der Liebe, außerstande, die Zeichen auf Anhieb und unbewußt zu deuten. Ich muß alles zerpflücken. Während andere sich amüsieren und sich an den Gedichten des Flirtens erfreuten, bin ich der Germanistikprofessor, der diese fremde Lyrik Zeile für Zeile, Vers für Vers mit dem Skalpell sezieren muß, um ihr etwas zu entnehmen. Vom eignen Dichten ganz zu schweigen. Da bleibt nicht viel am Leben. Artfremd innerhalb der eigenen Art muß ich die Zeichen studieren wie ein Zoologe unter Pavianen, die alle wissen, was sie tun. Oder vielmehr, nicht wissen, was sie tun, und dann ist es das untrüglich richtige.

Sonntag, 19. Dezember 2004

Vom Küssen

Immer war es so: wenn ich endlich die Frau küßte, nach deren Kuß ich mich gesehnt hatte, dann war es immer wundervoll, ganz unabhängig von der Art, wie sie küßte; es war wundervoll, weil es ein Kuß war, und: weil es ein Kuß mit der Frau-die-ich-küssen-wollte war. Es spielte dabei keine Rolle, wie sie küßte, ob wild oder zart, nachgebend oder straff; ob sie schmale oder volle Lippen, einen kleinen oder breiten Mund hatte; es war gleich, ob ihr Mund größer oder kleiner als meiner, ob ihre Zunge lang oder kurz, quirlig oder lasziv-langsam war. Für mich war es immer recht, hat sich ein Kuß mit meinem Wunschkußmenschen immer richtig und gut und zum Jubeln angefühlt, wenn es endlich so weit war. Weil es eben ein Kuß, weil es eben der ersehnte Kuß mit dem Wunschkußmenschen war. Und es ist schwer für mich, mir vorzustellen, daß und wie es anders sein könnte.

Die Frage ist natürlich immer, wer denn der Wunschkußmensch ist. Und warum. Aber findet man das erst beim Küssen heraus? Oder ist es nicht umgekehrt so, daß man überhaupt erst küßt, weil dieser Mensch der Wunschkußmensch ist?

Donnerstag, 16. Dezember 2004

Sonntag, den 5.12.

Ein Tagtraum.
So stark, so außer mir, daß ich die Gewalt über die Bilder verliere, diese Bilder: Wir umarmen uns und lassen uns nicht mehr los. Ich spüre Sosiglaúkes Luftholen gegen meine Brust. Ich fühle die Maschen ihres Pullis unter meinen Fingern, und wie sich das Gestrick spannt, wenn sie Atem holt in meinem Atmen. Ihr Ohr hört an meinem Ohr hört an ihrem. Rückgrat und Schulterblätter lauschen unter meinen Händen. Der Herbduft ihres Haars umschließt Wange und Kinn mir.
Später.
Vor dem Bettsofa hockend ich, Sosiglaúke auf dem Rücken liegend, und sie nimmt mein Gesicht in die Hände, zieht mich, zieht mich und holt mich aus unendlichen Fernen her zu sich hin und saugt, plötzlich und mit einer unerwarteten Heftigkeit, die alles lange Zaudern Lügen strafen will, saugt mich in einen nicht enden wollenden, bewußtseinsausblendenden Lippenkußzungenstrudel.
Mit einer gewaltigen Willensanstrengung reiße ich mich los aus diesem Bild. Aber es kommt wieder, kommt wieder und kommt wieder, ehe Dunkelheit und Schlaf es von mir nehmen.

...

aufwarmdrehen
mischkitzelbatterie
brausverwasserspritzen
leuchtleucht
gezitter vertrauter
ort, orte, stellstellen stehenso,
geartigkribbel
duschstrahl
bezartmuskelt krabbelt
als maskenzunge
zum
maskenzungenball
tastgleitet zwischen die
in flagranti
tanztanz
mundzunge
trockenheitüberstülbt
fingerzungenstrahl umrundet das
still werden
die räume so still daß
die wände hallen davon
luftumfeuchtwallte
leuchtreklame schlägt auf
und fleisch
fressende blumen nippen
naschen
sich nähren
sich von hauthaarnässe zwischen den lautlosfüßen
stille krallt sich umkrallt sich
krallt
sich ins
bis
nichts nichts
ist mehr außer
stille
geweitspreizte tropfen wie
warmhände weit sich
weit
ruckklaffend
dehnendsehnendbebend, dann, dann
weitweitweitwww–

dann

implosionsimpulspuls

ohneluftluftholend
verglüht vorgebeugtes
jammern und
warmwasser strudelig vermischt
vermischt

ver
mi
schtscht

verklatscht und
verpladdert vielstimmig
fortspült haploide
restsüße

plötzlich so laut wieder
die hände zittern
die wände atmen zurück

Mittwoch, 15. Dezember 2004

...

Aber das macht er ja doch nicht. Statt dessen hockt er auf seinem Zimmerchen und heult und klappert mit den Zähnen, weil natürlich prompt eine Nachricht von ihr ausgeblieben ist.

Kann ers ihr verübeln? Nein.

Und jetzt?

In den Arm nehmen möchte er sie und ihr was Schönes sagen. Trotzallemwegenallem. Ihr was ins Ohr raunen, das er selbst nicht verstünde, und sie dabei wiegen und dann warten, bis sie selig eingeschlafen ist.

Dienstag, 14. Dezember 2004

Seismographisch

wie schlangenhaut auf
zuckendem gestein
hören können
felsengespräche und
grundgeflüster
was gäbs da zu merken
schneckenfühler
lufthauchverzuckt
und
inhäusig weitergelauscht
auf draußen
istdawer-weristda
schalenentzweibruch
seitdem
bloßliegen mit haut
wasserdünn an winterkaltes
enggeschmiegt
tauziehen mit
glasfäden
mit dickgewebten
taubfingrighilflosigkeiten
als wollte man
kartenhaus
einfädeln
splitterziehen
mit fäustlingen
um fühlfinger

Montag, 13. Dezember 2004

Nach Hause

Gestern eine hochangenehme Heimfahrt mit viel Brown & Yule & Schokolade. Entspannt und zum ersten Mal seit Tagen wieder sehr ruhig. Gesammelt und bei mir selbst. Das Abteil ist ganz ruhig, halb leer, und es ist dieser Klang überall von Einsamkeit und Spätheit und ungewohnter Stunde. Die wenigen Blicke, die mir begegnen, sind willkommen als Gleichgesinnte, als Gefährten des Einsamen. Es ist seht still zwischen den Inseln, viel Raum, den man mit Lächeln füllen könnte, aber man muß es nicht. Lesen, aufblicken, wieder in die Komplexitäten des Buchs sinken. Meist aber belausche ich mich selbst, zu Gast im Haus meiner eigenen Träume. Doch kann ich sie nicht genau erkennen, sie gehen verhüllt, sie wenden den Blick ab. Immerhin bin ich willkommen, willkommen bei meinen Träumen. Das ist schön. Draußen heimeliges Schwarz mit Innenraumgespiegel in der Scheibe. Manchmal glitzernde Balken von Scheinwerfern auf dem sonst schwarz in schwarz nicht zu erahnenden Riesenfluß, der da draußen irgendwo träge, selbstvergessen und wie je einherströmt. Es fühlt sich gut an, so getragen zu werden, im Warmen durch eine eisige Nacht.
Viel später dann geht der Schlüssel. Im Flur brennt Licht. In der Küche macht sich jemand Suppe warm. Die Wohnung lebt und empfängt mich. Jetzt bin ich also wieder hier. Zurück aus der ferne. Zurück in der Nähe. Augennah und Rufnah, beinahe.

Mittwoch, 8. Dezember 2004

Fremdwörter, die die Welt nicht braucht

Genethliokryopodie, die. med. Fw. bezeichnet den Vorgang, angesichts herannahenden Geburtstages kalte Füße zu bekommen. Besonders oft tritt die G. im Zusammenhang elterlichen Besuchs (s. Goneoepiskope) auf. Linderung wird oft bei Einladung von Freunden (s. Philepiskope) beobachtet. Da die G. im allgemeinen harmlos verläuft und eine Besserung meist schon wenige Stunden nach dem Geburtstag (s. Metagenethlie) von selbst eintritt, ist eine Behandlung überflüssig, wird aber von den Betroffenen als angenehm empfunden und bei starken Beschwerden gerne in Anspruch genommen. Aufgrund ihrer unspezifischen Symptome ist die G. leicht mit der sogenannten s. Exetasiokryopodie zu verwechseln; welche Art der Kryopodie jeweils vorliegt, kann aber leicht aufgrund der eindeutigen Ätiologie festgestellt werden.

Dienstag, 7. Dezember 2004

...

anhänglich
anhängen
an dir hängen
aber nicht
von dir ab hängen
und auch nicht
ver hängen
zu hängen
weg hängen
was noch wo
fest hängt
oder
auf hängen
(höchstens blicke
ins
fenster)
und nicht
mir oder dir
was an hängen
lieber
sich ein lächeln
um hängen
anhänglich
miteinander
rumhängen und
zusammen hängen
und solche stiften

Sonntag, 5. Dezember 2004

Sonntag

nebelstimme
schweigt
mich
an aus nebelfernen
wie fern
wüßt ich gern

hier-ohr
lauscht
ihr
nach aus ödnisheim
wo das licht
weiß ich nicht

zaghand
will
zu
ihrhinüberhin
hautanhaut
ungeschaut

muß
mich
still verstellen
vorangehn
blick um blick
unbesehn

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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