Die Stadt am Ende des Jahrtausends

Freitag, 29. September 2006

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Jetzt gehe ich los, sagte er, und spannte den Körper. Die kann man schon fast zerknüllen und in die Tasche stecken, diese nicht einmal drei Stunden, sagte er. Dann lachte er ein wenig. Er legte die Hände auf den Tisch, beugte sich vor und erhob sich, ein gewaltiges Bündel von Schultern, Armen und Kopf, warf einige Geldstücke auf den Tisch und setzte die Mütze auf. Dann nickte er, wie um zu sagen, na, weißt schon … weißt schon. Der Stuhl rückte. Glas blitzte im Drehen auf, ein Quietschen von zitternden Spiegelungen, die sich über den Schultern schlossen, ein Schlag von Metall, er war draußen.
Draußen, wo wieder die Jahrmarktorgel zu spielen begonnen hatte.
Ein Kellner näherte sich lautlos und nahm die Münzen fort.


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Aber was willst du denn mal machen, fragte auch Ioanna, oftmals, als hätte ich ihr keine antwort gegeben (hatte ich auch nicht), ich meine, du willst doch nicht ewig in diesem Hotel bleiben. Sie sprach „Hotel“ aus, als hätte „Abort“ gesagt. An ihrem Akzent lag es nicht.
Ja, was wollte ich „mal machen“, wie es immer hieß? Abgesehen von der Formulierung, die mir schon bald auf den Geist gehen sollte – in diesem Abort wollte ich wirklich nicht bleiben. „Irgend was mit Sprachen“, war meine Standardantwort, und bald sollte sie mir ebenso vague verhaßt werden wie die Frage, auf die sie Antwort gab, ohne zu antworten. Obwohl es ja stimmte. Etwas mit Sprachen: aber was? Und wirklich? Was war mit der Chemie? Mit der strengen Schönheit der Naturwissenschaft? Mit der Mathematik, die ich noch kaum kennengelernt hatte? Aber ich brauchte nur wieder zu den agglutinierenden Mäandern meiner Sprache zurückzukehren, um zu wissen, was ich wollte – oder es zu ahnen, denn ich wußte nicht, wo ich finden würde, was ich suchte – eine Wissenschaft nämlich, die mir den eben entdeckten, ungeordneten Reichtum an Struktur auffädeln, die Dinge in Beziehung zueinander setzen, in einer verallgemeinerten Weise gliedern und mir dann seine Grenzen aufzeigen würde.



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Freitag, 25. August 2006

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Was wollten wir?
Frei sein, uns anpassen, Erfolg haben, Geld haben, eigene Wege gehen, unabhängig sein, stolz sein, es recht machen, davonkommen, ein Leben haben. Was sonst. Blöde Frage. Was sonst, war es je anders? Waren wir etwas besonderes, nur weil wir die ersten waren, die das Netz kennen sollten und die Zeit nach dem Netz ebenso wie die Zeit davor erfahren hätten? Daß wir fortan, heimgekehrt in die Alltäglichkeit und unsere alten Leben, mobil würden telephonieren können, ja müssen? Daß es fortan in dem Land, das wir verlassen hatten, verlassen zu haben glaubten, vielmehr, ein Unwort wie Handy gab? War es das, was uns ausmachte? Daß wir Händie sagten? Daß wir zurückkehrten in eine Welt der Achselrasur und der sogenannten Globalisierung, die man uns vormachte wie so vieles? Daß es nun „EU“ und nicht mehr, wie in der Welt, die wir verlassen hatten, aus der wir kurzzeitig ausgetretene waren, „EG“? Daß wir in vielerlei Hinsicht die letzten Unschuldigen waren? Daß wir die ersten (und letzten) waren, die profitierten von dem, was unsere Eltern in Kommunen, Straßenschlachten, Universitätsaulen, in fremden Betten, mit dem Mund zwischen fremden Beinen, Kundgebungen, hinter Flüstertüten und Barrikaden, in Stundenhotels und auf Open-Air-Festivals erkämpft, erstritten, erredet, erdiskutiert, und schließlich auch erfickt hatten (und die dann doch heirateten, Kinder bekamen – uns – und sich eine Reihenhaushälfte zulegten)? Daß wir die Früchte davontrugen als erste und letzte, die wirklich einmal frei gewesen waren, ebenso schwanger wie kinderlos bleiben durften, abtreiben, austragen, nach Schweiß riechen oder Deo benutzen, Beruf, Hausfrau, bärtiger Töpfergesell, Banker, alles drin, die letzten, die sich noch entscheiden durften zwischen BH oder Schwabbeln, zwischen Achselbusch und antiseptischer Glätte, zwischen Holzhütte und danish design, die letzten, die noch eine Wahl hatten, ehe wieder ein neues Diktat sich klammheimlich durch die Hintertür einschlich – das Diktat der sogenannten Freiheit, die längst keine mehr war (wen wundert’s?)? Und das ganze mühelos, ohne Kampf, den ja unsere Eltern ausgefochten hatten … Aber:
Machte uns das aus? War das unsere Generation? Das schon? Waren das wir?
Jetzt, wo ich das schreibe, im Später, an das ich mich in DER STADT fortwährend erinnerte, sind wir schon Historie, haben schon die Jüngeren wie die Älteren den Stab über uns gebrochen, sind wir schon eine Generation, eine Kategorie, beurteilbar und beurteilt, erwägbar und erwogen, kritisiert, verfehmt oder gelobt, jedenfalls seziert, auseinandergenommen, analysiert, bis nichts mehr von uns übrig war, bis nichts mehr blieb als Feuilletonartikel über die „heute 30jährigen“. Geschrieben von Alterslosen, die über jeden Verdacht, sie könnten (auch sie!) einer Generation angehören oder angehört haben, dem Verdacht, auch sie könnten bedingt und Kinder ihrer Zeit sein, wundersam erhaben waren.
Die „heute 30jährigen“ – die plötzlich, ohne, daß uns jemand um unsere hilflose Meinung gefragt hätte, wir waren. Mein Gott, das waren wir selbst! Und wir konnten es nicht einmal leugnen, wir waren ja um die 30. Kein Ausweg. Man brauchte uns nur nach dem Paß zu fragen. Wie auch immer wir uns verhielten, wir steckten in einer verdammten Schublade fest. Nicht auszudenken, was für eine Maske wir plötzlich trugen, eine Maske, die andere heimlich und in aller Stille für uns angefertigt hatten, um sie uns jetzt, wo wir uns nicht mehr wehren konnten (hatte uns jemand gewarnt?), umzuhängen. Und dann mit dem Finger auf uns zu zeigen.

Freitag, 18. August 2006

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Manchmal war alles wild, und man hätte glauben können, der Aufbruch finde schon morgen statt. Die Zeitungen schrieen den Passanten Schlagzeilen ins Gesicht, die Hochglanzmagazine spuckten Buntheiten in die Menge, und das Scharren und Schlurfen und Stöckeln und Stampfen unzähliger Füße schwoll und fiel, brauste und wallte und füllte machtvoll die Straßen.
Aber die blieben ja da. Die schlurften und würden weiter schlurfen in alle wirbelnde Zeit, und die Zeit, ja: Die würde sie packen und fortwirbeln, daß nichts von ihnen bliebe. Die wußten nicht einmal von der Existenz der Stadt, deren Straßen sie in Unkenntnis auslatschten. Blieben da, taub für jeden Ruf, innerlich blind für die Küsten und Gestade, verhaftet wie sie waren einer Stadt, die sie nur duldete, in der sie nicht zu Hause waren. Oder allzusehr heimisch.
So saßen wir an jenen wilden Tagen in der Mensa und peitschten Worte über unsere Köpfe, verliebt in uns selbst, gefesselt ein jeder vom Sog seiner Worte, ein jeder allein mit seiner kleinen Sehnsucht, seiner sehnsuchtsvollen Winzigkeit. Ein Zagen war in uns immer. Aber in den wilden Augenblicken verlangte dieses Zagsein nach einem Gegenbeweis. Sofort und ein für allemal. Wir redeten uns um Kopf und Kragen. Sprachen vom Bleiben und meinten den Aufbruch. Sprachen von Literatur, von Geldverdienen, von Karriere, von wirtschaftlichen Erwägungen, vom Weiterkommen, der Börse, den Aussichten, sprachen von Tabellen, leierten Statistiken herunter, lobten Aussichten, bezweifelten Prognosen.
Sprachen und sprachen und sprachen. Und meinten: Das Leben.

Arbeitsplatz

Bildschirm

Donnerstag, 17. August 2006

ankunft

ich kam an,

während der mond aus dem wasser stieg wie ein alter freund. er flimmerte, als sei auch er älter geworden, als hätten ihn die jahre wackelig werden lassen, aber vielleicht fröstelte er auch nur ein wenig, denn die nächtliche brise, die von see kam, roch schon nach herbst. oder fürchtete auch er sich vor dem neuen? ich sah ihm lange in die augen, aber er antwortete nicht. als

das schiff kam,

duckte er sich und verschwand, schüchtern wie er nun einmal ist, in einem zerfledderten

strahlenkranz,

als schäme er sich ein bißchen, daß er sich so lange mit mir beschäftigt hatte. ich nahm es ihm nicht übel. er kommt ja wieder, dachte ich und warf mir die jacke über die dunklen schultern.



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Mittwoch, 2. August 2006

Die Stadt (1)

im spiegel betrachten sich
geduldig wie schwäne
die wachsfigurenlippen
ewig lächelnd, zwei etruskische götter
einander unerkannt
gewogen im gläsernen grab

kein gott aber haust
zwischen den schenkeln
jenseits der versiegelten scham
weder stempel noch staubblatt
schließen die schweißnaht

jugendfrei preßt
sich rechts an links
kein spielraum für
erektile plastikträume
am boden unter
geschwollener hüfte
vergessen die schlüpfer
schamlos das licht auszumachen
und dazwischen
ein finger, ein arm
über geschloßnen lippen, schweig
und sie schweigen

alsobbrüste verspiegelt
ein museumsstück

es fliedert, fliedert
im wartesaal
riefen nahebei

die handtäschchen, gekleidet
in plastisches rosa
und mit den fäustchen
hielten umklammert sie
schlanke hoffnungen

und auch
wieder haltestellenweise
hingekippt schlotternde milch
der schoß so hart
daß die hose zum knie
marsupialisch durchhängen
muß

da sieht man sich selbst
wie den schatten des
etruskischen gotts
das lächeln geklemmt
unter den arm
überblendet von rasendem lärm

drüben, über der ampel, wo indes
wie die schablone
eines nebentraums
die brüste abermals gerannen
zu kunstharz und vinyl



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VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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