Werke & Tage

Donnerstag, 1. September 2011

Öööööööö!

Hööööööööööö!
Üüüö!
Hhhhhöü, höü. höööö!
Ü, ü.
Alles, was ich von hinter der Scheibe, blickauf aus dem Souterrain verstehe, sind gerundete Vokale. Die werfen sie sich zu wie Sportler im Wettkampf. Es ist nicht zu sagen, ob sie, hüo, hüo! ein Team bilden oder gegeneinander spielen, Üüüüüüüüüüüü! Öh, öhööhhöö! Zwischendrin klettern sie auch auf dem Gerüst herum, dann geht es öööööööhü! nach oben und aus einer Höhe, die mein Kopf im Nacken nicht mehr zuläßt, schallt es, etwas hohl zwischen den Wänden hin und her echoend, zurück, uuuuuuuuö!
Mal lauter, mal leise, mal fast ein rundvokalisches Gemurmel, murmumühür. Dann wieder klingt es, als müßten sie sich ÖÖÖÖÖÖääärrr! auf die Brust trommeln. Wer die Vokale mit dem größten Öffnungsgrad hinkriegt, darf vielleicht ein Weibchen decken, öh, öh, öh!
Oder ist es eine besondere, den schwierigen akustischen Bedingungen einer Baustelle angepaßte Phonation? Lassen sich Informationen so besser über Bauteile, -schluchten und -höhen hinweg übermitteln? Eine Art Pfeif- oder Trommelsprache im Land der Baustellen-Guanchen? Ai, aihaaai, macht jetzt einer, und ein anderer steht dabei und schüttelt den Kopf. Ein anderer Dialekt, ein Sprachfehler, oder einfach noch ungeübt? Öi, öhööööi, korrigiert einer, und von oben schallt es: Öh! Öhööööö!
Konsonanten kommen fast gar nicht vor. Allenfalls ein gerundetes Rrrrrrrrrö. Plosive scheinen gar nicht in Gebrauch zu sein. Vielleicht tragen solche Laute schlecht, weil sie von Pfeilern und Säulen und Streben abprallen und unterwegs akustisch zersplittern. Wer soll da noch eine Botschaft heraushören? Wichtig ist sicher der Tonfall, das Auf und Ab oder oft auch das Verharren auf einem hohen Ton. Manchmal hohl und brünstig, manchmal eher scharf und gepreßt (wie unter erbärmlicher Anstrengung bei Verstopfung), läßt es an die Zurufe und Pfiffe, das Johlen und Heulen in der Männerumkleide und -dusche eines Badehauses denken. Höööööööö! Höh, hö! Errrrrg!
Sogar das Gelächter ist gerundet, von männlichen rrrrrrrs und chchchchs durchsetzt, hör, hör, hör, hüchch, hüüühüühüch!
Und ein paar Minuten später pfeifen sie wirklich, und das Pfeifen folgt der selben Intonationskurve nach, die eben noch die gerundeten Vorderzungenvokale beschrieben haben. Vielleicht, denke ich mir, hängt das mit den Entfernungen zusammen. Auf ein paar Schritt: Üüüüö. Auf zehn oder mehr Meter: Pfiffe.
Wenn das nichts mehr hilft, müssen sie eben wieder zum Zeigen und Fuchteln, zum vokallosen Weisen und unrunden Winken übergehen.

Donnerstag, 4. August 2011

Sonntag

Das Verächtliche an diesen Tassen, ihre blanke Gleichgültigkeit, mit der sie ihren Inhalt verteilen. So wie das Licht auf Tischen und Tellern herumliegt, wie es beiläufig auf billigem Messerstahl blitzt, wie es absolut nicht wählerisch sein will mit dem, worin es sich spiegelt; wie dann die Wanderschuhe unterm Tisch noch den Kellerstaub vom Winter zeigen und oben die Sonnenbrillen ins Leere starren; wie dann die Münder mit jener unergründlichen Zufriedenheit, wie sie nur Sonnenbrillenträger hinkriegen, in die vogelstimmensatte Luft hineinplappern; und das billige Parfum, und die Omapelze; und wie die Kellnerin in Strumpfhosen, Handschuhen, Mütze und Schal neuen Kaffee bringt; und wie die Spatzen herumhüpfen nach Kekskrümeln; Feiertagslippenstift und Wanderkarten; und wie die Ebene unter der Burg daliegt wie ein schamloses langes Gähnen; und wie dann alles kein Ende haben wird, einfach kein Ende finden kann, die geschminkten Lippen nicht und die lauernden Blicke hinter der Sonnenbrille, die Meisen nicht und der Kaffee nicht, und man schon am Sonntag die Erschöpfung des Montagmorgens in alles Knochen spürt, die allumfassende Erschöpfung aller jemals durchlittenen Montagmorgen, und wie alles unvermeidlich nur darauf zulaufen wird, auf den nächsten Tag, als sei das unser aller Schicksal, einem nächsten Tag entgegenzuschweigen, für immer diesem nächsten Tag; genauso, einen Kaffee herunterwürgen, der schon nach Später schmeckt und doch jetzt bereits unsäglich bitter ist; die Fahnen klirren hören, im Tiefkühlobstkuchen stochern, den Kindern zusehen, wie sie verzweifelt zwischen den Tischen umherspringen, um jede Stunde dieses Sonntags ringen und nicht wissen, was besser ist: die Stunden zu verlängern oder sie besser schon im Abbau zu vergessen? Und wie man schon weiß, daß die Wohnung sich nach so viel erstem Frühjahrslicht später anders zeigen, das Treppenhaus schon anders riechen wird, nach Drinnen und Wänden, nach Verschalung und dumpfem Staub; wie man dann auf dem Absatz kehrtmachen möchte; wie man nicht kehrtmacht; wie die Uhr über den Küchentisch tickt; und wie die Kirchenglocken gedämpft über die Ebene heraufgeschwungen sind, Kindertage heruntergezählt haben, und die Müdigkeit abgeschnüffelter Teppiche, Nasen am eiskalten Fensterglas, und die Glocken, schwingen und schwingen, die Kellnerin dampft vor Atem, draußen gibt es nur Kännchen, und die Stühle sind angekettet, fugenlos und vernünftig stehen die Mauern, die Schleifen an den Wanderschuhen sind mit Doppelknoten gesichtert, am Nachbarstuhl lehnen die Turbokrücken, es knistert von himalayatauglichen Geweben; dieser Sonntag ist eine einstweilige Verfügung, Geldstücke klimpern wie eine Losung, aber wer kann sich schon freikaufen? Und wie dann der Gedanke an eine Flasche Wein samtig aufschimmert, und wie dann, trink nicht so viel, sagt jemand, morgen ist Montag da mußt du früh raus.

Dienstag, 19. Juli 2011

Greinstraße, Baustelle

Nur noch ein paar Tage, dann ist es aus mit dem Blick auf die Baumkronen. Schon verstellt ein Gerüst diesen grünwogenden Ernst, trampeln Arbeiter in den Laubhöhlen herum, wächst vor meinem Fenster der Plan zur Übermalung des Himmels: Ein Containergebäude, so hat es die Verwaltung beschlossen, soll dort entstehen und den Mitarbeitern eines anderen Insituts während einer Baumaßnahme als Notunterbringung dienen.
Jahre haben aber die Kronen ihren Schatten auf das Rasenstück geworfen, mir an Winternachmittagen den Himmel in Nester und Parzellen geteilt, Frühling für Frühling die unscheinbaren Schönheiten ihrer vor dem Blattaustrieb schwellenden Blütenknospen wie schlagende Glöckchen an den Himmel gesteckt, und im Herbst konnte man zusehen, wie die Winde langsam, jeden Tag größere Lücken reißend, das mürbe Laub aus den Kronen blies.
Selbst die Fußgänger, die dann, die Hand am Hut gegen den Sturm, zu den Parkülätzen streben, verfallen in solchen Schatten, überdacht von den ausladenden Zweigen des Silberahorns, in einen anderen, in einen besonnenen Schritt, obwohl die Bewegung, mit der sie sich eins der brennendroten Blätter vom Mantel wischten, gedankenlos und mürrisch ist. Der Raum unter einem Baum ist immer ein friedvollerer Raum. Die Übermacht des Himmelsgewölbes, dessen Vollkommenheit manchmal wie die Drohung eines jederzeit fälligen Schlags überm Scheitel hängt, ist zerstreut und im sorgsamen Walten des Laubs aufgehoben. Darunter und darin läßt es sich wohnen. Seine Wurzeln aber drücken selbst Betonflächen empor und lassen den Sand zwischen Pflastersteinen davonrieseln. Es ist nicht alles machbar. Auch die frischweiße Fläche, die jetzt als Fundament für die erwarteten Container sich dort erstreckt, wo vor ein paar Wochen noch eine Wiese lag, könnte sehr leicht diesen Druck aus dem feuchten Inneren der Erde an sich zu spüren bekommen.
Schon zwängt sich der Raum zwischen den Scheiben und der noch imaginären Wand unruhig in seinem zukünftigen Spalt. Gerüstrohre heulen wie Orgelpfeifen. Die Männer zeigen und messen und zeigen noch mehr. Vom künstlichen Stein kräuselt sich eine Staubfahne empor. Der Silberahorn wedelt mit Laub und Licht, bereits in einen Bilderrahmen aus Gerüsten gespannt. Bald wird nichts weiter zu sehen sein, als die Wand, an der jeder müde hinausgependelte Blick abprallen wird. Der Horizont läßt Wolkenvögel losfliegen: Auch sie wird man bald nicht mehr sehen, mit etwas Glück noch ihren Schatten, wie er zu den anderen Schatten im Spalt zwischen Mauer und Fenster hereingleitet. Das Licht auf dem beton ist stumpf geworden wie Kreide. Über den Arbeiterschultern spannen sich die Hemden. Im vorauseilenden Licht der Leuchstoffröhren sitzt man jetzt schon wie beengt.

Dienstag, 28. Juni 2011

Greinstraße

Der Himmel ist von so tiefem Blau, daß man ihm seine Farbe nicht glaubt.
Vorhänge, die am Morgen von Bäumen eingefaßt wie ein Augenfilm über den Bachtälern lagen, haben sich fortgehoben, Vögel eine Minute Irrsinn in den Schnäbeln herangetragen und aufgezogen, eine Kulisse für Erdhügel und Baugruben, eine Verschwörung der Farben, die sich erheben wie beschwipste Lanzenreiter.
Die Bauleute zeigen nichts mehr.
Sie sitzen und rauchen. Sie sehen nicht müde aus. Sie haben die Bereitschaft mißtrauischer Tiere. Sie lauern und rauchen. Das Licht unter dem künstlichen Himmel ist so hell, daß es den Rauch wegbrennt. Geduckt stehen die Betonmauern in ihren Schatten herum, sind sich ihrer selbst nicht mehr sicher, sehen aus, als schmerzte sie die Sonne, als gäben sie nach unter der korrosiven Phalanx des Lichts, das alles zu glatten Flächen hobelt.
Es gibt keine Erdbeeren. Ob das mit dem Wüstenklima dieses Falschfarbenvormittags zusammenhängt, ich weiß es nicht. Wer kann sagen, was für eine Farbe sich die Erbeeren hätten einfallen lassen. Ich bemerke an mir, wie mich Unterbrechungen kleinster Routinen aus der Bahn werfen. Die Routine des Wetters etwa: So ein unverhofft blauer Sommermorgen nach Tagen trüben Regens, das bringt mich total aus der Fassung. Es setzt mich unter Druck. Es will was von mir. Daß ich den Koffer packe. Daß ich das erstbeste Mädchen am Bahnsteig anquatsche. Daß ich eine neue Vogelart entdecke. Daß ich ein Attentat verübe, bevor noch ein größeres Unglück geschieht. Daß ich mir eine Tonsur schneide und unter die Pilger gehe. Daß ich dem Licht den Morgen erkläre. Ich müßte mich verwandeln, aber wie? Ich weiß es doch auch nicht. Laß mich in Ruhe.
Den Kopf im Nacken könnte man einen Drachen sehen, Flugzeuge mit Werbefahnen, Spiegelungen unsichtbarer Schwimmbecken. Wie das alles vom Himmel aufgesogen wird, gleichgültig, und verschwindet. Es gibt kein Entkommen. Es gibt nichts als Zukunft an einem solchen Tag, und da, nein, da möchte man wirklich nicht hin.

Mittwoch, 15. Juni 2011

Greinstraße: auf der Baustelle

Die Männer im Schattenschwenk der Baggerschaufel: ständig halten sie Arm und Finger ausgestreckt, kennt das Kinn Richtungen, wächst die Nase zum Expertenriecher. Die freie Hand auf der Hüfte, Fluppe im Mundwinkel, die Schirmmütze in der Stirn, stemmen sie die Füße in den Arbeitssschuhen auf die frisch aufgeworfene Erde, halten den Arm vor sich und zeigen, zeigen und kneifen die Augen zusammen und lassen Rauch aus ihrem Mund wehen, und folgen blickweise ihrem eigenen Finger den imaginären Pfad entlang, weisen und deuten und wissen bescheid, mal lanzenstarr, mal in einer aus dem mehrmals angewinkelten und wieder gestreckten Ellenbogen gestalteten Dynamik und Lautstärke, fassen immer irgendetwas ins Auge und sondern es mittels einer gedachten Verlängerung von Hand und Finger, in einer Art von semiotischem Energiestrahl aus dem Einerlei von Hügel, Haufen, Zaun und Grube heraus, machen es sich deutend zu eigen und zwingen die anderen, es ihnen zuzugestehen, ihr Eigentum, auf das sie kraft ihrer Zeigegewalt ein Anrecht erworben haben. Kein Gegenstand, der ihrem raffenden Blick gewachsen wäre. Wer stärker, besser, intensiver zu zeigen versteht, so scheint es, dem wird bald alles gehören, dem wird alles zu Willen sein. In der Morgendämmerung schweben ihre Gesichter wie behelmte Masken von Kriegsgöttern. Da geht’s lang! Es ist, als erfänden sie ganz neue Richtungen, wohin noch niemand je gezeigt hat. Sie stehen in einem Wettstreit der Richtungen. Wer eine neue Richtung findet, der darf ihr seinen Namen geben. So stehen sie, so marschieren sie, den Kopf voller Hoffnungen und Richtungen, so stapfen sie herum, gereckten Armes, pfeilscharfen Fingers, und zeigen, stoßen und zeigen. Überbieten einander mit Richtungen und Zielen, Objekten. Später sammeln sie die gezeigten Richtungen ein, nehmen sie als Trophäen mit nach Hause und bieten sie angstvoll ihren Frauen an. Mit diesen Erwartungen im Herzen zeigen und zeigen sie, inbrünstig, als sei dies, als sei das Zeigen ihre eigentliche, ihre wahrhaftigste Berufung, und immer ein bißchen verzweifelt angesichts einer unendlichen Aufgabe und vor einem nie ganz erfüllbaren Eid.

Freitag, 6. Mai 2011

Ein Bach hinterm Haus

Vor ein paar Tagen ein verwirrendes Geräusch. Gegen Abend, beim Essen: Durch das gekippte Fenster anhaltendes Wassergluckern, verspieltes Geplätscher, als ströme hinterm Haus ein echter Bach. Da füllt jemand eine Gieskanne, dachte ich. Es würde gleich aufhören. Aber es hörte nicht auf. Ich schloß das Fenster, beendete das Mal, öffnete das Fenster wieder: Der Bach floß immer noch munter dahin. Ich schloß das Fenster, machte den Abwasch, öffnete wieder: Geplätscher, nach wie vor.

Wie bei allen Geräuschen, muß ich dem auf den Grund gehen, ruhe nicht, bevor ich die Geräuschquelle gefunden habe und werde leicht wahnsinnig, wenn mir das nicht gelingt. Ich gehöre zu den Menschen, die dem geheimnisvollen Fiepen so lange durch die Wohnung folgen, bis sie die undichte Thermoskanne als Ursache identifiziert haben. Oder alles auf den Kopf stellen, bis sie das feine Blubbern unter der in einem Wasserfilm stehenden heißen Tasse geortet haben. Ohnehin schon geräuschempfindlich bis zur Psychose, bedeutet für mich die unbekannte Herkunft eines neuartigen Schallefekkts eine dramatische Steigerung der bei Geräuschexposition auftretenden Symptome: Herzrasen, Atembeschwerden, Sehstörungen, Bluthochdruck, Halluzinationen. Geräusche sind schrecklich. Aber Geräusche, deren Ursprung man nicht bestimmen kann, sind das reine Grauen.

Das Paranoide dabei (man könnte denken, das sei schon paranoid genug, aber weit gefehlt), das wirklich Paranoide dabei ist, daß mir Geräusche, die ich eigentlich mag, sofort ein Dorn im Ohr sind, wenn sie von Menschen verursacht und mir ungebeten zugemutet, aufgezwungen werden: Ein echter Bach hat keine Absichten und Wünsche, er kann mir sein Plätschern nicht aufzwingen. Der Buchfink vorm Fenster, er tut nur, was er tun muß, und um diese Jahreszeit kann er nicht anders als zu trällern. Bach wie Buchfink empfinde ich nicht nur nicht als störend, sondern im Gegenteil als wohltuende Bereicherungen des Klangkosmos um mich herum. Aber ein Plätschergeräusch, das der Nachbar aus Absicht oder einfach nur aus Unachtsamkeit oder als Nebeneffekt einer anderen Intention erzeugt, geht mir sofort auf die Nerven; und ein Buchfinkengeträller von einer Vogelstimmen-CD, das derselbe Nachbar stundenlang laufen ließe, würde Mordgedanken in mir reifen lassen. Wohlgemerkt, das Geräusch kann ununterscheidbar „echt“ sein. Ob es mich stört oder nicht, darüber entscheidet nur das Bewußtsein, ob es auf Menschenwitz und Menschenlist zurückzuführen, oder die absichtslose Natur selbst am Werk ist.
Es ist ein bißchen so wie mit der Fälschung in der Kunst. Eben noch hat uns das siebte Brandenburgische Konzert in Verzückung versetzt, da erreicht uns die Nachricht, es sei eine moderne Fälschung aus dem 20. Jahrhundert – und mögen es fortan nicht mehr hören. Nur das Bewußtsein, daß nicht der Meister selbst es geschaffen hat, verleidet uns den Genuß von Klängen, die auch nach der Erkenntnis dieselben bleiben.

Genauso stört mich ein Geräusch oft erst dann, wenn ich weiß, woher es kommt. Dem verleideten Genuß entspricht dann der Zorn auf den Urheber. Ein rhythmisches Klappern und Scheppern in einem Zug wird ab dem Moment unerträglich, wo ich begreife, daß es nicht den Fahrtgegebenheiten, dem Gegenwind oder den Gleisen verschuldet ist, sondern aus den Ohrstöpseln des Nachbarn herausschallt.

Ich bin neulich dann aber doch über meinen Schatten gesprungen und habe beim Einschlafen mich bemüht, das Wassergeräusch als solches zu nehmen wie es ist: Eine im Grunde angenehme Anwesenheit, ein willkommenes, beruhigendes Geplätscher, das unbedingt an eine sylvestrische Idylle erinnert. Ich versuchte, mir einen echten Bach dazu vorzustellen. Ich dachte noch an Forellen, die mit sanft ondulierenden Bewegungen im Strom stehen, dann schlief ich ein.

Ich hoffe, der Buchfink ist echt.

Montag, 25. April 2011

Melancolia veris

In einer Art umgekehrter Entsprechung zum Wetter hält mich die Traurigkeit. Je bunter das Draußen, will mir scheinen, und dieser April ist ein teuflischer Ausbund an Buntheit, desto grauer das Innen. Nachts erwacht, die Decken sommerwarm, aufgestanden, Wasser laufen lassen und nicht mehr ein- noch ausgewußt vor Traurigkeit. Trau-grau-grauslich: Es sind diese schlimmen Stunden, irgendwann zwischen drei und vier Uhr, vor dem ersten Vogelton, der indes auch nicht tröstlich wäre, draußen die Nacht, die Welt, auswegslos, verschlossen, riesig, eine Steilwand aus Zeit und Raum ohne Betriebsanleitung, kein Vogel, die Nacht schläft, ich bin wach, und innen alle Bastionen und Wehre zerbrochen. Strom und Stau von ungebetenen Gedanken, derer ich nicht Herr werde. Gäste mit grimmigen Gesichtern hocken sie auf der Türschwelle, sitzen am Tisch, ziehen Bücher aus dem Regal, schütten das Blumenwasser weg.
Ein Zur-Unzeit-Sommer ist das aber auch! Grillgeruch am Abend. Autos mit offenen Scheiben, Wummern von Beat & Bass. Morgens bereits Sonnenschirme auf den Balkonen. Bunter April, heitere Menschen, tödlicher Pollen. Rätsel, Sphingen, Bögen mit aufgedruckten Losungen. Auf der Terrasse der Nachbarn holt man sich Nachtisch. Stimmen. Es sind viele Stimmen in der Luft dieser Zeit, ziellos und ungebeten, wie Ungeziefer aus Licht. Man sitzt und räkelt sich, ein Ellenbogen liegt sonnengecremt auf einer Sesselarmstütze, Buschwerk verhüllt die Gesichter, die Luft, warme, vogelstimmensatte Luft, ist voller Verbindungen, macht die Stimmen flugfähig, falter- und flatterfähig.
Was sind das für Leben, denke ich angesichts dieser Zurschaustellung fremden Mit-in-der-Welt-Seins, was sind das für Wege, Lebens- und Todeswege, was für Gesichter, Träume hinter der Stirn? Was für Opfer haben sie gebracht, um da jetzt zu sein, in diesem Haus, Nachtisch löffelnd, auf der Terrasse, ahnungslos und zufrieden mit dem Bunten um sie herum, was für Opfer, die ich nicht zu bringen bereit war?

Mittwoch, 6. April 2011

(ohne Titel)

Sich noch beim Noch-nicht aufhalten und schon vom Nicht-mehr eingeholt werden.

Donnerstag, 31. März 2011

Die Waffen scharf halten

Er sagt: Was ist denn das für Musik, die du da aufgelegt hast?
Sie sagt: Wir können auch andere Musik hören.
Er sagt: Nein, nein, ich wollte nur wissen, was wir da hören.
Sie: Es gefällt dir nicht.
Er: Laß es ruhig, ich wollte wirklich nur wissen, was wir da hören.
Sie: Na, du hast doch wieder diesen Blick gehabt. Dabei kreuzt sie Zeige- und Mittelfinger und deutet sich auf die Augen.
Er: Was denn für einen Blick, ich wollte nur …
Und da ist sie wieder, diese Spannung zwischen manchen (allen?) Paaren, dieser Ton, der, obwohl äußerlich frotzelnd, quasi nur die Form wahrend ins Ernste und streitbar Verhandelnspflichtige hineinreicht. Daß man als Unbeteiligter sofort das Gefühl hat, Zeuge eines Oberflächengekräusels von Auseinandersetzungen zu sein, die so schon oft zwischen den beiden ausgetragen worden sind: Und immer geht es dabei um etwas anderes als die Frage nach dem Musikgeschmack oder ob die Schwefelquellen auf Island gestunken haben oder nicht:
Sie, auf meine Frage nach dem Geruch der Schwefelquellen: Klar, das stinkt.
Er, im Brustton der Überzeugung: Die stinken nicht.
Verwirrend ist nun, daß das folgende, immer in jenem halb ernsten, halb spaßigen Ton gehaltene Gezänk mit einer Ausdauer und sacht spaßhaften Erbitterung geführt wird, als habe sie eigentlich seinen Körpergeruch, nicht den der Schwefelquellen gemeint. Etwas Persönliches. Jedenfalls scheint es ihm mindestens ebenso wichtig, daß die vulkanisch erhitzten Quellen nicht gestunken haben, wie jemandem höchstens der eigene Körpergeruch Anlaß zur Beunruhigung sein mag. Immer wieder, wir sind im Gespräch schon bei was ganz anderem, kommt er darauf zurück, fragt in eine Pause hinein, Sag mal, haben die wirklich gestunken? Findest du echt? Er buhlt darum, von ihr recht zu bekommen, man merkt ihm an, daß ihm ihr Widerspruch keine Ruhe läßt. Aber was für ein Widerspruch eigentlich? Man könnte sich doch, um eine bedrohlich auf die Lächerlichkeit zusteuernde Debatte abzuschließen, darauf einigen, daß ihre Nase eben feiner ist als seine. Daß sie empfindlicher ist als er. Oder daß sie sich in größerer Nähe zu dem Geblubber oder den Schwefeleffloreszenzen aufgehalten hat. Dann könnten beide recht behalten und, wenn es wirklich so wichtig ist, das Gesicht wahren. Es ginge dann ja wirklich nur um den Geruch irgendwelcher Vulkane. Sie suchen diese Lösung aber nicht, nicht einmal vor einem Gast, nicht einmal, um einem unbeteiligten Dritten das alberne Gezänk zu ersparen. (Ich finde es wirklich peinlich und schweige betreten.) Also muß es ihnen um etwas anderes gehen, nicht um die Vulkane und überraschenderweise auch nicht ums Rechthaben oder wenigstens den Anschein desselben. Man wird nicht schlau daraus. Und es kommt ständig vor, fast alle mir befreundeten Paare zeigen dieses Verhalten. Worum geht es?
Vielleicht, denke ich manchmal, geht es nur darum, für den Beziehungsernstfall zu üben und die Messer scharf zu halten.

Montag, 14. Februar 2011

Rolandsbogen

Am Samstag überm Rhein. Aus dem Wald um einen Felskegel herum, ein paar flache Stufen, dann ist man oben. Oben: eine klirrende Fahne über dem eiskalten Strom, der Bogen ein steinernes Fliehen, vom Strom auf den Felsen, vom Felsen in die Wolken. Etwas wie schwarzer Draht ist um die Säulen gewickelt, bei näherem Hinsehen entpuppt es sich als eine Lichterkette. In der Mittagshelle starren die erloschenen Birnchen wie die Körper lebloser Käfer. Zwei Stufen weiter die leere Terrasse, nicht einmal zusammengeklappte Stühle oder eingefaltete Sonnenschirme, nur Steinplatten laufen auf eine Tür zu, die blind ist von Spiegelungen, das Siebengebirge mit dem körnigen Himmel darüber, der Bogen mit dem Käferkranz, eine merkwürdig schmale Gestalt mit riesendunklen augen, das bin ich wohl selbst. Mit der Nase an den Scheiben erkennt man einen Gastraum, und seltsam, die Tische sind schön gedeckt, Stoffservietten zu schlanken Pyramiden gefaltet, drei Sorten Gläser an jedem Platz, auch sie spiegelnd, sauber, bereit. Auf der Terrasse knistert etwas Laub vor sich hin, die Umfassungsmauer zuckt die Achseln, ein Stapel leerer Bierfässer, eine Guide-Michelin-Empfehlung klebt innen auf den Scheiben, alles spricht hier von einem Sommer, an den man nicht glauben kann. Endlos das Dröhnen der Güterzüge im Rheintal. Keine Vögel. Zwischen Nonnenwerth und dem hiesigen Ufer läßt sich eine Rudermannschaft treiben, die Riemen über dem Wasser schwebend, der Rumpf sehr schlank, es sieht aus wie ein Gliedertier, ein Wasserläufer.

Anderntags sitze ich im Zug nach Au (Sieg). Wenn ich schon nicht laufen kann, will ich wenigstens im Zug in Bewegung sein. Ich dachte mir, schaust du dir mal an, wie es da ist am Westerwaldrand, da warst du noch nie. Fuhr also hin, stieg aus, sah wie es war und fuhr wieder zurück. Wie war es: Schön. Die Strecke führt im Tal der Sieg entlang und überquert den derzeit stark angeschwollenen Strom mehrmals. Mal fließt der träge und läßt eine Ente auf sich schwimmen, dann geht es stürmisch glitzernd über Schnellen. Weiden und Pappeln stehen im Wasser und hängen voll mit verfilztem Schilfgras. Das Tal ist noch winterlich grau, Spaziergänger und radfahrende Familien sammeln sich auf den Uferwegen und tragen bunte Tupfer in die trübe Ferne davon. Im Baumdraht über den das Tal einfassenden Hügeln irrlichert es von Sonne und Wolken im Wechsel, ein Licht, das wie verdünnt ist, sich nicht entscheiden kann.

Der Ort selbst ist leer. Immer noch keine Vögel. Eine Straße führt vom Bahnhof hinunter, zwischen den Häusern blitzt etwas wie eine Wiese, davor schwingt sich eine Schnellstraße die Hügel hinauf. Mehrere Zuglinien fahren von hier noch weiter, ich lese Namen wie Dillenburg und Limburg auf dem Fahrplan, der überraschend kräftig gelb ist, nicht wie sonst auf Provinzbahnhöfen leichenhaft blaß hinter der angelaufenen Scheibe vor sich hin modert. Trotzdem scheint hier etwas zu Ende, macht dieser Ort, der, wie ich später erfahre nur einige hundert Einwohner zählt, den Eindruck einer letzten Station, hier noch einmal Wasser, Brot, Tee und Kocherbenzin einkaufen, bevor es losgeht in die Wildnis, die gleich da drüben, am Hang, der die Schnellstraße ansaugt und verschwinden läßt, beginnt.

Ein Paar in Festtagskleidung betritt den Vorplatz, Stöckelschuhe klappern. Der Bahnsteig ist überraschend belebt. Handtaschen, kleine Rucksäcke. Kinderwagen. In Köln muß sich der Sonntag anders anfühlen, sagen die Gesichter, in Köln wird jetzt schon Frühling sein.

Aber erst heute zittern an den Bahndämmen die Schneeglöckchen, als habe gestern mit dem Sonntag nicht nur die Woche geendet. Auf dem Weg zur Straßenbahn nach einer Schrecksekunde begriffen, daß, was man da eben gehört hat, ein Buchfinkwar.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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