Freitag, 23. Juli 2004

Mondträume

Etwas fehlte in ihr, ein Mangel bewegte sie, ein Nichts. Sie irrte durchs Zimmer, vom Fenster zur Tür – sollte sie noch einmal hinaus? – von dort zum Krug mit Wasser, das keine Linderung, wieder zum Fenster, das keine Kühlung brachte. Sie hob das Gefäß an den Mund, ließ das Wasser auf die Lippen treten, Überdruß überkam sie, sie stellte den Krug wieder hin. Blieb einen Augenblick reglos, warf sich endlich aufs Bett, von Zerren und Reißen erfüllt.
Da aber wuchsen ihre Füße und wurden riesengroß, und Wurzeln sprangen aus ihnen hervor und gruben sich in Erde und Stein der Welt. Zu einer großen Schale weitete sich ihre Mitte, wurde ein See, ein Becken, ein Teich, den Erlen beschatteten. Mondlicht lag still auf ihrer Brust, ihr Atem wurde eins mit dem Heben und Senken des Baches, dem Schwellen und Niedersinken des Blättergewirbels; und da waren ihre Hände plötzlich schwer und reich und voller Früchte, und ein tauchte sie in eine Zwie-Welt, darin Stimmen flüsterten unter schwankendem Mond, und ein Wind sich erhob wie aus Pfotentritten, und ein Sturm warmer, schnaufender Leiber nahte, die dichtgedrängt sich aneinander rieben, daß Funken knisternd zwischen ihnen hervorsprangen und ins Dunkel, ins dichte, umher drückende Dunkel zerstoben. Seltsame Bilder brachten sie hervor, Bilder die Solveigh unheimlich und süß zugleich waren, Münder und Augen, die aus Handflächen und Fußsohlen hervorsahen, Köpfe, die lichtübergossen in die Ferne schauten, Schultern, die schweißglänzend verwirrende Arbeit verrichteten, oder sie sah einen See, der im Mondlicht glänzte wie ein Mund, ein Strom von Wasser, das aus einem felsigen Grund hervorbrach, das Glitzern auf dem Fell eines Luchses. Sein Auge, dessen Blick in sie drang wie Feuer. Und ein Regen und Sehnen kam in ihre Brust, wie sies noch nie gefühlt hatte. Duft trat in ihre Nase, ein scharfer Odem, der von dem Leibersturm ausging, sie aber bald erfaßt hatte, ihr unter die Haut gedrungen war, in ihrem Blut pochte, bis sie ihn selbst ausdünstete, und die Räume hinter dem Dunkel anfüllte. Und jenes Dunkel, aus dem der Leibersturm herangeeilt und wohinein die Flut, begleitet von wildem, dunklem Schnaufen wieder davoneilte, jenes Dunkel barg Höhlen und mächtige Räume, weite Hallen und unsichbare Gänge, in denen sich Solveighs Wachsein verlor und mannigfach teilte. Vielleicht war es der Grund eines Sees, vielleicht eine Höhle unterm Gebirg, vielleicht ein Wald uralter Bäume, so dicht, daß die Sonne niemals den Grund berührte und die Stämme wie Säulen das Blätterdach trugen, weit, weit oben, wo das Licht manchmal dämmrig zu erahnen war, wenn ein Wind das Laub wie eine Meeresfläche wogen ließ. Neue Bilder kamen, und sie sah einen glänzend schwarzen Raben von einem Baume auffliegen, sah Flammen in einer Feuerstelle steigen und wieder zusammensinken, sah dann voller Schrecken Temes’ Fohlen in einer Blutgischt aus dem Schoß der Stute herausstürzen, und plötzlich war es ihr eigener blutiger Schoß, der das Fohlen von sich gab. Voller Entsetzen wollte sie an sich herabsehen, doch da waren die Bilder fort, und es wurde dunkel.
Endlich verlor sich auch das Getrappel und Geschnauf in den Fernen, und ihr Wachsein kehrte zurück aus dem Irrgarten, und der Mond schien nicht mehr ins Fenster. Das Bett lag im Dunkel des Zimmers. Zum Fenster wallte Kühle herein. Matt schwebte noch der Tiergeruch über den Laken. Alles war still, nur ein langsames, tiefes Atmen blieb und füllte den Raum.

An Esther

Gerade dann, wenn man am meisten zu erzählen hat, ist ein Brief das letzte, wozu man sich sammeln möchte. Und will man dann einmal schreiben, hat man nichts mehr zu erzählen.

Viel eher greift man zum Telephonhörer oder schreibt eine elektronische Nachricht. Man will seine Sorgen schneller loswerden. Man ist ungeduldig und will sofort eine Antwort haben. Ein Brief dagegen braucht Zeit; er erfordert eine Sammlung, derer man ausgerechnet aus demselben Grunde entbehrt, aus dem man überhaupt zu schreiben erwogen hat.

Indem der Brief den Schreibenden dazu anhält, seinen Gedanken eine Ordnung zu geben, zwingt er ihn auch, Grund und Wirkung zu entfädeln, nach Hintergründen, Motivationen, und Ursachen zu suchen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, und am Ende dieses Vorgangs versteht man sich selbst vielleicht besser. Der Brief ist wie ein Tagebuch, nur distanzierter, denn man muß sich immer fragen, wie die eigenen Worte auf den Empfänger wirken werden, was man sagen, was man verschweigen will. Auf diese Weise hilft das Briefschreiben dem Schreiber, sich auch darüber klarzuwerden, was er sich selbst eigentlich nicht eingesteht. Oder, anders herum, das Briefschreiben verhilft gerade dazu, sich selbst etwas einzugestehen, indem man es einem anderen mitteilt. Immer vorausgesetzt natürlich, man schickt den Brief auch ab.

Wann schreibt man heutzutage überhaupt einen (persönlichen) Brief? Unter wer schreibt? Freunde einander? Eltern und Kinder? Jüngere und Ältere, wenn letztere sich scheuen, es mit der elektronischen Post zu versuchen? Ich stelle fest, daß ich kaum noch Briefe schreibe, es sei denn, daß ein Briefwechsel schon besteht. Der Brief ist zu etwas Besonderem gewachsen, nicht nur, weil er seltener geworden, sondern weil er einem strenger ausgewählten Adressatenkreis vorbehalten ist.

Das war früher ganz anders. Ich erinnere mich, daß der Brief bis in die erste Hälfte der 90er Jahre ein völlig gewöhnlicher Mitteilungsweg war, wenn das Telephon einmal nicht in Frage kam. Vor kurzem fiel mir ein Brief in die Hände, den mir eine Bekannte aus der Universität geschickt hatte. Es war damals vorlesungsfreie Zeit, sie und ich hielten uns bei unseren Eltern auf, keiner hatte die Nummer des anderen. Ich war verblüfft. Und ich erinnerte mich: Natürlich hatten wir Briefe gewechselt, oder einander Postkarten geschrieben. Warum schien mir das plötzlich ungewöhnlich? Wir würden heute keinen Brief mehr schreiben, dachte ich. Warum? Nicht, weil es uns zu umständlich wäre. Nein, mein Erstaunen über diese einfache, in Vergessenheit geratene Tatsache hatte einen anderen Grund. Ich glaube, die schriftliche Mitteilung hat einen neuen Stellenwert erhalten. Ein Brief ist nicht einfach ein Ersatz fürs Telephon, wie früher: Diese Stelle nimmt heute die E-Mail ein. Vielmehr ist der Brief etwas Besonderes, weil er eine gewisse Vertrautheit voraussetzt, ein inniges Verhältnis zwischen den Korrespondierenden, eine persönliche Nähe, die für die E-Mail nicht erforderlich ist und von ihr auch nicht impliziert wird. Schriebe ich heute einem Kommilitonen, den ich nur aus dem Hörsaal kenne, und den ich höchstens einmal am Telephon gesprochen habe, einen Brief, wäre das völlig ungewöhnlich, weil ich damit einen Grad der Nähe zu diesem Menschen behaupten würde, der in unserem Verhältnis noch gar nicht erreicht wäre. Der Brief tritt heute zwischen zwei Menschen erst viel später in Erscheinung. Der Brief bedeutet Freundschaft. Einen persönlichen Brief, ja nur eine Postkarte schreiben, ohne daß ein Verhältnis großer Nähe besteht, hieße, sich im Ton vergreifen. Es wäre, wenn nicht ein Akt des Sichaufdrängens, so doch etwas Voreiliges, und ist in jedem Fall ein Schritt, der vom anderen mit Vorsicht, ja sogar Mißtrauen beobachtet würde.

Cicero schrieb täglich mehrere Briefe. Seneca „unterhielt sich“ schriftlich mit seinem Schüler Lucilius; seine Briefe füllen zwei dicke Bücher. Zieht man in Betracht, daß der Mensch auch noch Dramen, philosophische Abhandlungen und anderes verfaßt hat, muß wohl davon ausgegangen werden, daß auch er täglich mehrere Briefe (nicht nur an Lucilius und nicht nur die, die ohnehin zur Veröffentlichung bestimmt waren) geschrieben haben muß. Heute dagegen zählen wir die Briefe nach Monaten. Aber ich wage zu behaupten, daß durch das Medium der elektronischen Post eine neue Schriftlichkeit zustande kommt und eine neue Kultur des Briefwechsels erwächst, die der alten, von Cicero und Seneca gepflegten vielleicht näher steht, als man vermuten würde. Ich schreibe täglich mindestens eine Nachricht mit mehr als 10 Zeilen Länge, an bestimmte Personen, mit denen mich genau diese Form des „Brief“wechsels verbindet, oft schon seit Jahren. Das sind Nachrichten, die immer über die bloße Information, über die Verabredung, Mitteilung, Vereinbarung hinausgehen, und in denen ein echtes Gespräch zustande kommt. In früheren Zeiten wären das alles „echte“ Briefe gewesen, hätte man sich die Mühe gemacht. Für Cicero und seine Zeitgenossen war es aber wohl selbstverständlich, sich diese Mühe zu machen. Vielleicht aber hatten sie es auch leichter. Ich frage mich schon seit längerem, ob wir heute nicht allzu oft abgelenkt sind durch eine Flut von Möglichkeiten der Zerstreuung, so daß wir Dinge aus den Augen verlieren, die, wenn wir uns daran machten, sie zu schaffen, vielleicht Bestand hätten. Oder uns selbst reifen lassen würden dadurch, daß wir Mühe aufwenden und uns im Wortsinne: widmen. Oder etwas der Welt hinzufügen würden, auf das wir stolz sein dürften. Wir schaffen so wenig Schönes, das wir der Welt entgegenstellen können. Wir sind abgelenkt und alles ist uns allzu schwer. Kaum bringen wir es noch zuwege, etwas mit der Hand zu schreiben. Aber das ist ein Gedanke, dem ich einen eigenen Brief widmen muß.

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