Mittwoch, 9. April 2008

Cafeteria

Ich starrte ihr unter den Maskenrand, länger als es schicklich war, fing einen Blick von ihr auf, der mich schmerzvoll an jenen amüsierten Mut-em-Enets oder Astartes erinnerte, den sie mir damals in der Straßenbahn nicht zugeworfen hatte, senkte rasch die Augen und starrte auf den weißgrellen Sonnenfleck auf dem PVC, wie er sich langsam vorschob und dabei eiförmig zerfloß. Die Tüte mit Eßbarem knisterte, die Füße der Frau scharrten, Lederknarren und ein leises, mit äußerster Zurückhaltung nicht mehr unterdrückbares Räuspern war zu hören, das unter dem Dämpfer der Maske beinahe melodiös klang, jedenfalls nicht krank. Eine Fliege landete vor mir auf dem Tisch. Ich erschrak: Wie lange war es her, daß ich keine Fliege mehr gesehen hatte? Ein merkwürdiger zweiter Schrecken floß aus der Frage, wie es wohl kam, daß die Fliegen rar geworden waren – oder wurde ich allmählich verrückt? Wie still dieses dunkel schimmernde, von fahlgrauem Pelz spärlich bedeckte Insekt dasaß … was geht wohl im Nervengeflecht eines solchen Tiers vor sich, während es scheinbar teilnahms-, jedenfalls der Anschauung nach bewegungslos dasaß? Träumte es? Dachte es? Und was waren das wohl für Gedanken? Langweilte es sich vielleicht? Jetzt hob es eines seiner dornigen, wie mit Widerhaken besetzten Beinchen, das linke des ersten Beinpaars. Sah es mich an? Schimmerte mein Abbild da drin in den irisierenden Schleifflächen der gut zwei Drittel des Kopfsegments ausmachenden Augen? Ich beugte mich und ging in die Hocke, bis meine Nasenspitze die Tischfläche berührte. Im aus den Neonröhren schleichenden Licht warfen die Fliegenbeine allerfeinste Schatten auf die Resopalplatte. Der Pelz aus feinem Haar bedeckte den Körper nicht gleichmäßig, das meiste davon bildete eine Art von Stola oder Schal um die Fugen zwischen Kopf- und Brustsegment. Vereinzelte Büschel aber staken auch auf dem rundlichen Hinterleib, als litte das Insekt an einer Art Arthropoden-Alopezie. Auf der Unterseite dieses von bogenförmigen Versteifungen geteilten Segments wölbte sich etwas wie eine Tasche oder ein Beutel, eine knollenförmige, dunkle Ausbuchtung, die, so weit ich das mit bloßem Auge erkennen konnte, von einem krustigen Schorf bedeckt war. War das Wesen krank? Nährte es da einen Parasiten, ein Nest aus Würmern, oder war es einfach nur Schmutz? Aus einer Verletzung ausgetretenes, geronnenes, die Wunde schützendes Sekret? Oder trug es darin Eier mit sich herum? Ob so ein Tier auch die Verzweiflung spürte, fragte ich mich plötzlich, angesichts einer solchen Cafeteria, der Flecke auf dem Boden, der Frau mit den Gurkenbrüsten gegenüber, dem schorfigen Gebilde unter dem eigenen Bauch? Das abgespreizte Bein zitterte ein wenig. Es zeigte, wie ich da vor dem Tisch hockte, genau auf mich. Et tu Brute! schien es zu sagen. Plötzlich wandte die Fliege sich in einer zuckenden Bewegung um, als sei sie brüskiert, machte einen Sechsschritt und erhob sich im nächsten Augenblick in die Luft, wo sie sich beim Wechsel aus dem Schatten in die Fensterhelle von einem dunklen Punkt in einen Leuchtstreif verwandelte, und gleichsam durchstrahlt in der sonnenhelle Tiefe der Cafeteria verglomm.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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