Freitag, 3. September 2010

Fortschrittslärm

Als lärmempfindlicher Mensch, der von modernen Formen der Lärmheimsuchung gequält wird, wie sie in Gestalt von Autoradios, tragbaren Audiogeräten jeder Art, von Telephongeklingel und -gequatsche auftreten, aber auch von nicht mehr so neuartigen Geräuschquellen wie automobilen Fahrzeugen und Fluggeräten aller Art ausgehen, muß man sich früher oder später die Frage stellen: Wie war es früher? War es früher leiser? War die Lärmbelästigung vor der Erfindung des MP3-Spielers und des Automobils geringer – oder sind diese neuartigen Lärmquellen nur an die Stelle früherer, mittlerweile vergessener Geräuschursachen getreten?

Leicht fallen einem da zahlreiche, glücklicherweise verschwundenen Ärgernisse ein. Noch in den frühen achtziger Jahren gehörten junge Männer, die mit einem auf volle Lautstärke gedrehten Tonbandgerät auf der Schulter durch die Einkaufszone stolzierten, zum alltäglichen Bild deutscher Innenstädte. Sie sind ebenso verschwunden wie die Skateboarder, die, wo man nur fahren konnte (und oft auch, wo man es nicht konnte), auf ihren Brettern alle möglichen und unmöglichen Fahrkunststückchen ausprobierten (da man dazu mehr als nur manchmal abspringen muß, macht das, wie jeder jenseits eines bestimmten Alters weiß, ein gewisses Geräusch). Zweimal im Jahr Probealarm, mehrmals wöchentlich militärische Tiefflieger, auch das gibt es gottlob nicht mehr.

Steigt man weiter zurück in die Vergangenheit, verschwinden immer mehr Geräusche – und neue kommen hinzu. Die Pferdekutschen wurden durch Automobile abgelöst, waren aber sicher ebenso laut, wenn nicht lauter. Ältere Automobile machten viel mehr Lärm als moderne, deren Motoren kaum mehr als leise brummen. Dafür gibt es ihrer aber auch hundertmal so viele. Dampfeisenbahnen dürften auch eine höhere Lautstärke erzielt haben als moderne Züge; auch sie fuhren aber seltener. Von dampfbetriebenem ÖPNV im Viertelstundentakt konnte jedenfalls damals keine Rede sein. Dafür war die elektrische Straßenbahn, mehr noch die Untergrundbahn dort, wo sie eingeführt wurde, in Termini der Lärmbelästigung eine enorme Erleichterung. Je nachdem, wo man wohnte, dürften empfindliche Ohren also in früheren Zeiten kaum weniger unter Lärm gelitten haben als heute. Das Lärmbewußtsein war darüber hinaus ein anderes; was noch als zumutbar oder gar als normal galt, dürfte nach heutigem Maßstab vielleicht nicht mehr durchgehen. Regeln wie die Mittagsruhe sind eine moderne Errungenschaft (die de facto leider als wieder abgeschafft gelten muß). Dafür war aber die Qualität des Lärms von heutigen Geräuschen deutlich verschieden. Mag sein, daß Pferdefuhrwerke es auf den gleichen Dezibelwert schaffen wie Autos; dennoch ist das Geräusch natürlicher und, möchte man vermuten, leichter zu ertragen. Wellengebraus oder Wasserfälle, obgleich ziemlich laut, zählen auch nicht zu den Geräuschen, an denen die Menschheit leidet, im Gegenteil. Naturgeräusche, auch durchaus kräftige, werden im Allgemeinen als weniger störend empfunden als technische. Angeblich haben Regengeräusche, Wellenschlagen und Meeresbrandung sogar eine heilsame Wirkung. Dessenungeachtet soll Immanuel Kant, von ständigem Krähen genervt, den Hahn eines Nachbarn kurzerhand in den Suppentopf befördert haben. Und manch einer empfindet es vielleicht als Fortschritt, Autolärm statt das Geschrei spielender Kinder ertragen zu müssen. Die Geschmäcker sind wohl nicht nur bei Musik verschieden. Auch dort gilt ja bekanntlich, daß „sie oft nicht schön empfunden/wenn sie mit Geräusch verbunden.“

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