Dienstag, 12. August 2008

Geschichten, wie sie das Leben schreibt

Ich habe nie begriffen, was an geschichten gut sein soll, „wie das leben sie schreibt“. soweit ich weiß, schreibt das leben vor allem banale geschichten, solche, die kein verleger drucken würde. nehmen wir beispielsweise das ende einer der letzten diktaturen europas, das land spielt keine rolle, da gab es eine friedliche umwälzung, der regierungspalast wurde von einer fröhlichen menschenmenge gestürmt, der regierungschef war damit faktisch abgesetzt; niemand griff ein, das militär nicht, die polizei nicht, kein schuß fiel, niemand kam zu schaden, und als die bürger sich stunden später verblüfft die augen rieben, war eine regierung, ein system und eine ära zu ende. so weit so gut. aber jetzt kommt das wahrhaft schöne, das, was dieses ereignis zu einer geschichte macht, oder gemacht hätte, wenn es wahr wäre: es hieß nämlich bereits wenige stunden später, die bewegung der am fuß der treppe wogenden menge die stufen hinauf und ins innere des palastes hinein sei durch ein kleines kind ausgelöst worden, das sich aus der hand seines vaters befreit hatte und, die kühnheit seiner schritte nicht ahnend, die stufen erklommen habe, so daß der vater ihm nachgesprungen sei; und dieser bewegung hätten sich sogleich einige und schließlich viele spontan angeschlossen, bis im schneeballeffekt der palast regelrecht gestürmt worden sei.
eine schöne geschichte, wie gesagt, wenn sie wahr wäre. denn nicht das leben hatte sie geschrieben, sondern irgendein nach geschichten hungernder geist (der sich vielleicht an eine schlange und ein blankgezogenes, in der sonne blitzendes schwert erinnert hatte); jedenfalls konnte sie so nicht bestätigt werden. so schön ist das leben nun einmal nicht, und deshalb, warum sonst, braucht es geschichten, als entwurf einer wahreren welt. und das schöne ist: diese innere wahrheit kann niemals angezweifelt werden. vielleicht hat es das kind auf den treppenstufen des palastes gegeben, vielleicht nicht. daß aber die schlacht zwischen Artus und Mordred durch ein leichtfertig gezogenes eisen ausgelöst wird, oder daß Philemon und Baucis in bäume verwandelt werden, ist unbezweifelbar „wahr“. indessen wäre aber eine geschichte, in der der böse wolf von rotkäppchen geküßt und in einen schönen prinzen verwandelt wird, nicht „falsch“ (in welchem sinne denn auch?). man könnte nicht ausrufen, „das stimmt doch gar nicht!“, höchstens „die geschichte geht anders“, was nicht dasselbe ist. insofern ist jede geschichte wahr, sobald sie erzählt wird. deshalb ist, auf ihre weise, auch die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes wahr, dann nämlich, wenn man sich die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes erzählt; sie ist so wahr, wie es eben nur eine geschichte sein kann. nicht eine, wie das leben sie schrieb. sondern wie man sie sich manchmal für das leben wünscht.



thisandthat - 12. Aug, 19:55

werden geschichten (selbst die, in denen nichts passiert) nicht ausschließlich von nach geschichten hungernden geistern geschrieben, nur manchmal dem leben in die schuhe geschoben? das leben – viel zu beschäftigt mit zu vielen anderen dingen – fand niemals zeit, überhaupt schreiben zu lernen.

_vel - 13. Aug, 19:13

stimme thisandthat zu. zudem finde ich es schade, dass das, was in der welt tatsaechlich passiert, keinen zu interessieren scheint. ich frage mich, warum die meisten nur in geschichten "etwas" sehen oder erkennen koennen, im leben aber wie blind durch die gegend stolpern.
Talakallea Thymon - 14. Aug, 12:42

ich muß wohl mal was dazu geschrieben haben, das diesen einwänden recht gibt. (ziemlich weit unten, viertletzter absatz)

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