egregie dicta

Montag, 13. Juni 2005

Gegeninterpretation

Wenn zwei so verliebt sind, daß sie im Angesicht des Anderen zu zittern beginnen; wenn zwei so verliebt sind, daß sie so sehr zittern, daß ein Becher Weins, von ihr zu ihm gereicht, ihnen beiden entgleitet; wenn daraufhin der Wein aus dem Becher schwappt und sich dunkel auf den Boden ergießt: Warum ist das ein Zeichen dafür, daß ihre Begegnung scheitert?

Die Beiden

Sie trug den Becher in der Hand,
ihr Kinn und Mund glich seinem Rand,
so leicht und sicher war ihr Gang,
kein Tropfen aus dem Becher sprang.

So leicht und fest war seine Hand:
Er ritt auf einem jungen Pferde,
und mit nachlässiger Gebärde,
erzwang er dass es zitternd stand.

Jedoch, wenn er aus ihrer Hand,
den leichten Becher nehmen sollte,
so war es beiden allzu schwer.

Denn beide bebten sie so sehr,
das keine Hand die andre fand,
und dunkler Wein am Boden rollte.

(Hugo von Hofmannsthal)



Die beiden werden dargestellt als im Vollbesitz von Anmut, Kraft und Sicherheit. Ihr Gang ist „leicht und sicher“, und sie hat keine Schwierigkeiten, einen vollen Becher Weins ohne Überschwappen zu balancieren. Seine Hand ist „leicht und fest“, so fest tatsächlich, daß er ein junges Pferd ganz ohne Kraftanstrengung („mit nachlässiger Gebärde“) bezähmt und unter seinen Willen zwingt. Doch das ist vor der Begegnung. Unter den Augen des Geliebten dann werden die Hände so schwach, daß der Becher „beiden allzu schwer“ wird. Beiden wird der Becher zu schwer, beide beben: Ihr Gefühl ist wechselseitig. Alle Kraft und Sicherheit sind dahin, wenn man vor dem Geliebten steht. Und so stehen die Beiden einander gegenüber und werden im Wortsinne schwach, der Becher kippt um, „dunkler Wein“ rollt am Boden.

Ohne nun das Überlaufen, Auskippen, Überschütten von Flüssigkeiten in überkommener Weise als ein Bild sich entladender Lust, die dunkle Farbe des Weins dagegen als Bild weiblicher Reife zu deuten, ist die Begegnung dennoch eine Situation, in der sich etwas zuspitzt und in eine Art Miniaturkatastrophe gipfelt. Es ist ein Augenblick des Atemanhaltens. Wie geht es weiter? Werden die Beiden herzlich über ihre Ungeschicklichkeit lachen? Wird es ihnen peinlich sein? Werden sie im Beben des anderen das eigene Beben wiedererkennen? Auf diesem Höhepunkt der Spannung entläßt uns der Beobachter.

Mißgeschicke dieser Art sind natürlich, ebenso wie krankheitsähnliche Symptome (Gliederzittern, Herzrasen, Schweißausbruch, Stottern), ein gängiger Topos in der komischen Darstellung der Verliebtheit. In seinem Gedicht schafft es Hoffmannsthal, die Komik auf wundervolle Weise zu überhöhen und mit dem aus der Komik bekannten Topos ein Bild heiteren Ernstes zu zeichnen.

Wer in dieses Gedicht das Scheitern einer Begegnung hineinliest, war vermutlich selbst noch nie verliebt. Ein solches Mißgeschick ist weit weniger ein Zeichen des Scheiterns, als ein offenkundiges Zeichen dafür, daß die zwei bis über die Ohren verliebt sind. Gibt das nicht Anlaß zur Hoffnung? Wäre es nicht vielmehr umgekehrt? Daß die Begegnung gescheitert wäre, wenn beide die Ruhe selbst sind bei ihrer Begegnung? Daß das nachgerade gar keine erzählenswerte Begegnung wäre? Eine Begegnung zwischen Mann und Frau, bei der keiner der beiden bebt, ist wohl eine alltägliche, eine belanglose Begegnung. Jedenfalls würde man nicht ein Gedicht darüber schreiben. Hugo von Hoffmansthal hat in Die Beiden durchaus kein Gedicht über das Scheitern geschrieben, sondern über das Beben von zweien, die allen Grund zum Beben haben: vor süßer Angst.

Mittwoch, 25. Mai 2005

Lateinische Fundstücke

Illa nvlla qveat melivs consvmere noctem

...

Lateinische Fundstücke

Epistula non erubescit.

Man möchte hinzufügen: Ein Weblogeintrag auch nicht ...

Freitag, 20. Mai 2005

...

At tu dum primi floret tibi temporis aetas
utere: Non tardo labitur illa pede.


Aber solange dir blüht das Alter der ganz jungen Jahre
nutze es, denn es entschlüpft dir nicht mit
langsamem Fuß.

Donnerstag, 25. November 2004

Zitat

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.

Montag, 22. November 2004

Lieblingsstellen

„Das ist eine meiner Lieblingsstellen“, flüstere ich meiner Tischnachbarin zu. Vorne im Raum holpert sich eine Stimme am Hexameter ab. labitur et labetur in omne volubilis aevum …

„Warum?“ flüstert sie zurück.

Bis auf zwei enthält der Vers nur offene Silben. Vokal und Konsonant stoßen einander an und lösen einander aus wie Steine in einem Dominospiel; kaum ein Stocken von Positionslängen stört oder hemmt auch nur einen winzigen Augenblick dieses stete Fließen. Von den zwei Konsonantenhäufungen besteht die eine nur aus Sonoranten, die sich nahtlos in den Strom der Vokale einfügen. Wortakzent und Iktus fallen genau zusammen; reibungslos und ohne Holpern folgt betonte Hebung auf unbetonte Senkung, so daß die Silben vorbeigleiten, unaufhaltsam fließend wie der Strom selbst, den sie beschreiben. Dunkelheit beschwört das seltene Wort volubilis „wirbelnd“ herauf, eine Dunkelheit, die sich in der zweiten Worthälfte ein bißchen aufhellt, ganz wie ein Strom mal dunkel gurgelt, mal hell aufschäumt. Doch das Helle ist nur von kurzer Dauer und in Dunkelheit geschlungen, so wie das -bilis von tieftönenden Hinterzungenvokalen umgeben ist.

Ich weiß wohl, es ist nicht so gemeint, und meine Liebe zu dieser Zeile löst sie ganz aus dem Zusammenhang, der ein durchweg ermunternder und optimistischer ist. Aber mir spricht eine große Traurigkeit aus diesem Vers. Der Fluß wird für alle Zeiten dahinfließen, wir aber mit unseren kleinen Hoffnungen stehen an seinem Ufer und warten und warten darauf, daß er eines Tages versiege.

Freitag, 5. November 2004

Lieblingstaste: Pausentaste

Gerade gehört, und beim Hören ihr Beistand hinübergedacht ...

Die Augen schließ und schlaf, mein Kind,
was draußen rauscht, ist nur der Wind,
der Wind, der in den Bäumen weht,
wenn’s finster wird, mein Kind, der geht
bis an den Rand der Welt.

Der Rand der Welt ist immer da,
ist weit hinter Afrika,
ist ferner als die Sterne glühn,
und doch ist, wo die Malven blühn,
schon auch der Rand der Welt.

Gleich hier im Uhrgehäus, das tickt,
im See, in den der Fischer blickt,
im Kummer, der den Vater frißt,
ganz anderswo für jeden ist,
mein Kind, der Rand der Welt.

Du mußt das heut noch nicht verstehn,
du mußt nur schlafen und vorm Wehn
des Winds nie bangen, und als Mann
fährst einst vielleicht du wirklich dann
bis an den Rand der Welt.

Montag, 6. September 2004

Horaz, Episteln

inter spem curamque timores inter et iras
omnem crede diem tibi diluxisse supremum
grata superveniet quae non sperabitur hora.

Dienstag, 3. August 2004

im Radio

Ein Zen-Schüler fragte einmal einen Meister, ob ein Hund Buddha-Natur habe.
Der Meister verneinte.
"Hast du Buddha-Natur?" fragte der Schüler weiter.
"Nein", antwortete der Meister.
"Aber jeder Mensch hat doch Buddha-Natur", rief der Schüler verwirrt.
"Das ist richtig", entgegnete der Meister. "Aber ich bin nicht jeder Mensch."

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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