Dienstag, 19. Oktober 2010

Bei solcher Witterung. 8:58

Bei solcher Witterung haben selbst die Blicke der Menschen im Zug etwas Nebliges, ja, Nebulöses an sich, versponnen, labyrinthfarben, nach innen gerichtet und doch die Umgebung im Blick, traumgefärbt vielleicht, als gäbe es da etwas, das uns, jene Frau und mich, die ich schon seit langem im Zug beobachte aus sicherer Distanz und der versteckten Warte beiläufiger Taxierung, das uns also schon von je verbindet, nur ich weiß es nicht, abgelenkt und verloren wie ich war an eine andere Erzählung, an ein anderes Licht. Die Felder eisgrau, ohne das Gewicht von Farben. Raben, die auf einen Acker niederfallen. Strommasten huschen lautlos vorbei. Der Blick sagt, hast du’s immer noch nicht verstanden? Und ein pastellenes Glänzen liegt da wie eine eingenistete Trauer in ihren Augen, ein Sog.
Sie verläßt vor mir den Zug, wobei sie mich mit diesem ballistischen Blick auffängt und gleich wieder fallenläßt, mit diesem knappen, zwischen Beachtung und beiläufigem Desinteresse schwankenden Streiflicht und Hast-du’s-noch-nicht, das Kinn ein wenig auf die Brust gesenkt, die Aufmerksamkeit jetzt auf die Lücke gerichtet zwischen Trittstufe und Bahnsteig, es ist eine Aufmerksamkeit, die ebenso beiläufig ist wie vorhin der Blick, und sich noch weitere Aufmerksam- und Beiläufigkeiten vorbehält. Ihre hohen Stiefel machen kleine Geräusche jetzt schon auf dem Bahnsteig, auf den angefeuchteten Steinen, Geräusch wie von solchen Schritten, die sich eine nächtliche Straße hinunter einsam entfernen, manchmal ein Holpern, wenn die Fußspitze beim Vorwärtsschwung noch einmal den Boden berührt, tänzerisch klingt das und elegant, klack klack kliklack, ihr violetter Mantel beginnt sich schon aufzulösen, das Haar glänzt wie von Kondenstropfen. Die Schultern spannen sich leicht, als wüßte sie mich vertrauensvoll hinter sich, wüßte meinen Blick auf ihr ruhen, der ihr auch wirklich folgt, wie sie, womöglich mit dem Bewußtsein, das ich sie nicht aus den Augen lasse, klack klack kliklack dem Treppenabsatz zur Dasselstraße zustrebt. Sie senkt den Fuß auf die erste Stufe, neigt ein bißchen den Kopf vor, vorichtig, hat ein Taschentuch hervorgezogen, schneuzt sich die Nase, schnieft, der Nebel, die Kälte, das Herbstzittern, ihre Gestalt schon eingetrübt, senken sich die Schultern auf der Treppe, bereits die einer Fremden in einer Menge weiterer Fremder, eine auf und ab wogende Isokephalie unter dem Stahlbogen, wo jetzt das feuchte Gleiten einer Taube den Stahlschatten des Bahnübergangs entkommt. Die Treppe saugt die Menge an sich, unten erklingt das sanfte Gekreisch einer bremsenden Straßenbahn, der Zug schickt zwei rote Rücklichter aus der Kurve zurück. Das Bahnhofsgelände hat sich geleert; eine Zigarettenkippe qualmt in der Nässe, ein Papiertaschentuch leuchtet weiß auf dem Perron, die Taube entfernt sich flügelklatschend und verschwindet in der Silhouette der Platanen, und als ich wieder zur Treppe sehe, wird sich die Fremde kein zweites Mal nach mir umgedreht haben.

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