Werke & Tage

Dienstag, 19. Juli 2005

nach der prüfung

was ihn wieder einmal am meisten befriedigt: (vermutlich) besser gewesen zu sein als die anderen. am meisten freut ihn nicht, daß seine übersetzung stilistisch und grammatikalisch einwandfrei und vielleicht sogar elegant ist; nicht, daß er alle vokabeln, wenn nicht gewußt, so doch richtig geraten hat; nicht, daß ihm keine konstruktion durch die lappen gegangen ist, nein:

er war besser als die anderen, das ist es.

"ganz schön abscheulich", grinst er bei sich.

vor der prüfung

Die luft so schal und schwer und unbeweglich, als hätte sie ein riese schon einmal geatmet. keine flugbahn erlaubt das stille brüten, keinen vogellaut. schweiß bricht unvermutet aus und füllt den raum zwischen stoff und haut mit poriger klebrigkeit. magenzusammenziehungen künden schwerstarbeit an, greifen voraus auf leere blätter, nehmen sich schonmal siegel und linierung vor. die mauern fenstern grimmig, augenhinterlos, als sei schon über jede zukunft das los geworfen. über den bahnsteig hin wölkt es von schimmernden vokabeln. an den zeigern der uhren versammeln sich seitenzahlen.

die schritte fallen auf einen termin zu. unbesehen kräuselt sich das blut.

Montag, 11. Juli 2005

...

Die Tage werden kürzer, die Pfützen dunkler, die Buchfinken verstummen einer nach dem anderen, und der Himmel ist fliehend und hoch: Aufgestiegen aus den Tiefen der Dämmerung stürzt nun der Sommer dahin. Noch merkt man den Tagen ihr Schwinden nicht an, und daß die Buchfinken schweigen, fällt lange nicht auf, bis der letzte still geworden ist. Aber die Straßenbahnen schrillen langsamer um die Kurve, das Morgenlicht tastet sich träger als gestern über die Scheiben, die Menschen sind müde oder haben die Stadt vor Tagen verlassen. Das Leben ist anderswo in diesen seltsamen Hochsommerwochen, ist an Stränden, auf Inseln, auf Berggipfeln, im Eis. In der Fremde, während Haus, Hof, Straße und Café vom hektischen Frühling träumen.


Es ist merkwürdig: Das, was eine reiche und volle Zeit später ausmacht, ist gar nicht der Höhepunkt, sondern das Mehrwerden, das Wachsen, ein Noch-nicht voller Verheißung. So wie die Verheißung stets mehr ist als ihre eigene Erfüllung.

Mittwoch, 29. Juni 2005

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Grauenhafte Träume haben mich heute Nacht heimgesucht, und dann polterte auch noch ein Gewitter los. Schon wieder katastrophische Ereignisse, Leichenberge, kreischende Frauen -- gräßlich. Entwand mich nur mit größter Mühe, strampelte viel, ehe ich schließlich wieder wußte, wer ich bin, und wo ich mich befand. Da war es draußen still, so entsetzlich still, daß mich wieder Angst anschwemmte. Als wäre tatsächlich alles tot, und draußen lägen nur noch zugerichtet die entseelten Leiber. So still! Vielleicht, da es gerade zwei Uhr war, eine Stunde, die ich sonst glücklich verschlafe. Kein Vogel. Kein Motorenlärm. Keine Schritte im Hof. Nur stummes Geflacker, das irgendwo in den Fernen geisterhaft blitzte und wieder erlosch, und der Hof erhellte sich und sank wieder ins Dunkel hinab. Die Schreie aus dem Traum hallten noch nach, die Bilder eines gesunkenen Schiffes, blitzhaft aufleuchtende und wieder von Wasserschwärze verhängte Anblicke von Gegenständen, die vielleicht Leichen waren. Ein Gang, eine Grube, ein Schacht? Zuletzt, kurz vor dem Erwachen, ein Bahnhof, auch hier viele Tote, halbversteckt, lagen da schon lange. Wir beide mußten ans Ende eines Bahnsteigs, um dort Bier abzufüllen, doch dazu mußten wir an den Kadavern vorbei, und ... ich konnte nicht, konnte nicht. Aber es war doch meine Pflicht! Alle hatten es getan, und es gab keinen Weg, es nicht selbst auch zu tun, überall war die Erwartung, daß ich es tun müßte, daß ich mich nicht dieser Aufgabe, die alle andren auch auf sich genommen hatten, entziehen könnte. Aber alles in mir wehrte sich. Schon vermeinte ich, daß es nach süßlicher Verwesung röche -- da erwachte ich strampelnd zu Fremdzimmerwänden, Stille und Wetterleuchten.

...

Meines Großvaters Tod – irgendwie scheint das Ereignis tiefere Spuren gegraben, tiefer in mich gegriffen zu haben, als mir zunächst bewußt war. Die Träume zeigen es mir, Blasen, die aus den Tiefen des Schlafs emporsteigen und an der Grenze zum Wachsein Bilder ausschütten, die wieder zurück in die Wirren der Tiefe weisen.

Ich halte nichts von der Vorstellung des einschneidenden, gar prägenden Erlebnisses. Halte es für romantisch und für ein literarisches Konstrukt. Etwas, das man im Englischunterricht als story of initiation durchkaut. Oftmals, so will es mir scheinen, ist man erschüttert, bewegt, verändert, allein aus dem Grund, daß man glaubt, es jetzt sein zu müssen. Es ist die Rolle, die man zu spielen hat. Wieviel davon ist echte Erschütterung, vorliterarisch, vorbildlos, musterlos? Dennoch ist da etwas – benennen kann ichs nicht – das mich unmerklich durchfurcht hat, auf eine Weise, daß es sich, zunächst unerkannt, langsam und im Kleinen äußert, gleichsam nur als Zeichen, daß etwas Grundlegendes anders geworden ist. Einesteils zeigt sich das in den Träumen; dann hab ich aber auch viel von meiner (vielleicht auch nur eingebildeten) Gelassenheit verloren, jener Gelassenheit, die glaubte, der Tod könne nicht schrecken. Aber der Tod, so wie er sich nun mir gezeigt hat, ist widerlich. Nicht unheimlich, sondern in dem, wie er sich äußert, furchterregend, weil abstoßend. Die faßbare Realität, nicht jenes Unfaßbare, daß eine Welt in der Welt plötzlich fehlt, und wies wohl sein kann, daß sie fehlt. Das ist es nicht. Faßbar: die wächserne Haut, die kalte Leblosigkeit unter dem berührenden Finger, der halboffen starrende Mund. Unter den Ohrläppchen war schon Blut bläulich zusammengelaufen. Die Stirn lag gläsern und hart ins Kissen gesunken. Die Hände hatte man ihm, ihn Anzielung einer vornehmen Haltung, eine über der anderen auf der Brust zusammengetan. Vornehm indes wars nicht, sie starrten in Nichtbewegung und leerem Greifen wie Vogelkrallen. Es war überhaupt nichts Edles daran, nichts Weihevolles, nichts Hohes. Das da war ein toter Leib, dessen Verfall im Augenblick, da das Herz still blieb, schon eingesetzt hatte.

Man sagt immer, es ist wichtig, Abschied zu nehmen, indem man den Toten zu berührt, wichtig, sich davon zu überzeugen, daß er wirklich tot und fort ist, und dieses Fortsein mit den Händen zu begreifen. Daher glaubte ich, es tun zu müssen, und ich berührte meines Großvaters kalten Leib. Das war ein Fehler. Ich hätte ihn niemals berühren, ich hätte ihn nicht einmal sehen sollen. Vielleicht blieben dann auch die Träume aus. Und das Bedürfnis nach einer letzten Berührung, die ja doch ihn, meinen Großvater, gar nicht mehr hat erreichen können, diese Bedürfnis hatte ich ohnedies nicht gehabt. Am liebsten wäre ich im Auto sitzengeblieben. Mein letztes Bild von ihm wäre nicht seine glasharte Stirn, wäre nicht der offene Mund gewesen, sondern seine genießerisch geschlossenen Augen, als ich ihm das letzte Mal beim Rasieren half. So aber werde ich jetzt dieses andere Gesicht, das gar nicht mehr seins ist, nicht mehr los. Kaum in der Wohnung meiner Großmutter angekommen tat ich etwas, wofür ich mich zwar schämte, das mir aber ein furchtbares Bedürfnis war: Ich wusch mir die Hände, wo ich den Toten berührt hatte, wusch sie mir gründlich, mehrmals, mit warmem Wasser und Seife, wusch mir die Todesbegegnung, wusch mir eine Befleckung vom Leib. Ein gräßliches, schwarzes Berührtsein wollte ich von mir abtun, das mir aber innerlich blieb, auch wenn die Hände nach Seife dufteten.

Ich träume jetzt zum dritten mal dasselbe. Er ist gar nicht tot, er kommt putzmunter zur Tür herein. Es ist ein Augenblick schreckhaften Atemanhaltens. Was passiert nun, wie geht es jetzt weiter, was wird jetzt geschehen –? Ich empfinde keine Freude, ich habe Angst. Nicht weil das da ein Gespenst sein könnte. Es ist die Angst vor etwas Monströsem, das sich da abspielt, etwas Widernatürlichem. Ich begrüße ihn nicht, ich scheue ihn. Ich frage mich, was meine Mutter, meine Großmutter sagen, tun, denken werden. In den Träumen sind sie nur Statisten. Ich erfahre nie, wie sie reagieren. Manchmal bin ich der einzige und erste, der ihn sieht und begreift, daß er zurück ist, an mir ist es dann, zu reagieren, zu handeln, die anderen zu holen, aber mir graut davor, so ungeheuerlich ist es. Mein Großvater ist bester Laune, erfreut sich guter Gesundheit, strahlt Lebenskraft aus, ist viel jünger: In dem einen Traum hatte er glänzend schwarzes Haar. Aber er spricht auch nicht mit mir. Im jüngsten dieser Träume begab er sich wieder nach draußen, vor die Tür der großelterlichen Wohnung. Die Tür schloß sich. Etwas polterte. Jemand wollte nachsehen, doch eine Stimme hielt ihn oder sie zurück, eine Traumstimme, die sagte, geh da nicht raus, sieh es dir nicht an, jetzt hat er seine tatsächliche Gestalt wieder.

Grauenvoll. Das Bildnis des Dorian Grey, sozusagen.

Die Träume sind eines. Etwas anderes ist, daß sich die Welt gewandelt hat. Sie ist eine geworden, die auf Tode wartet.

Dienstag, 28. Juni 2005

19. Juni. ein brief

Nein, ich war nicht in der Eifel ich war: zu Haus. Samstag lang lange schlafen, einkaufen, Essen machen, dann stundenlang die Vertracktheiten der lateinischen Syntax und Semantik in mich hineingefressen. Hoffentlich blieb genug hängen. Sonntag morgen war die Luft noch kühl, und ich hab mir den Luxus eines Frühmorgensumsiebenfröstelns gegönnt, bin raus mit dem Rad über Felder, durchs Grafschafter Ländchen, an dichtem Erdbeerduft vorbeibrausend, Fahrtwindgeklingel im Ohr, und fruchtansatztragende Edelobstplantagen hingen im Augenwinkel fest, Insekten verprallten auf der Haut, summten im Ohr, Licht stand hoch und blinzelnd flach zurückgeworfen auf der Straße: Die Sonne war schon lange auf den Beinen, doch die Luft noch verschlafen und erdfeucht und frisch. Getupf gebeugter Leiharbeiterrücken, mühselig mein späteres Frühstück sammelnd um geringen Lohn. Feudalherrengefühl schmückte mir die Sinne. Um neun wieder zu Hause, da war ich schon zwei Stunden unterwegs. Den Magen mit Haferflocken, Erdbeeren, Bananen und Milch besänftigt lockte dann das Bett noch einmal, und ich hab mich guten Gewissens dem Schlaf hingegeben.

Der Nachmittag ging mit Latein dem Abend entgegen, als das Telephon läutete und mich zu Weg und Besuch und Liegewiese lockte und rief.

Montag, 23. Mai 2005

...

Von meinem Großvater geträumt. Immer derselbe Traum, er ist gar nicht tot, sondern kommt plötzlich putzmunter zur Tür herein, oder, wie heute Nacht, wird plötzlich unruhig, spricht mit sich selbst, schlägt die Decke weg, will aufstehen, erhebt sich halb. Es ist etwas Grauenhaftes daran, etwas völlig Unmögliches passiert und verstört mich. Halb ist es auch gar nicht wahr und er ist doch gestorben, und seine Bewegungen sind eine Laune der Natur, ein übriggebliebener mechanischer Reflex, ein Reststrom in den Nerven, der sich gliederrührend entlädt, wasweißich.

Solche Träume werden noch öfter kommen, denke ich, und mit allem Schlimmen, was passiert, werden neue, sich dann ebenfalls wiederholende Träume sich hinzumehren. Das Leben wird schwieriger. Die Träume zeigen es an.

Montag, 25. April 2005

23.4.2005, Michelstadt

Während die Buchfinken ihr Geperl aus den lichten Kronen hängen lassen, tönt unten im Dorf die Glocke. Ausgerechnet ein Pfau gibt sich die Ehre, zerspaltet die Ruhe mit seinem Schrei und zieht seine Prachtschleppe durchs Unterholz. Die Keimblätter von Buchenschößlingen stecken ihr fettes Grün durchs Vorjahreslaub, dem schütteren Licht entgegen. Überall stehen sie, die Hallen sind voll davon. Nebenan auf dem Sportflugplatz startet ein Flugzeug, dessen Gedröhn sich bald an die Ferne verliert. Ein schwaches, schläfriges Zittern bleibt in der Luft hängen. Die Sonne schmeckt nach Frühsommermittag und Erdbeerkuchen mit Sahne.

Wie sehr hätte ihm, dessen Asche wir hier der Erde, den Buchen und Eichen und Linden übergeben, wie sehr hätte ihm diese Mittagsstunde, wie sehr ihm dieser Wald gefallen. Die Buchenkeime, die feuchtgefalteten Blattaustriebe, das zwischen die hellen Stämme gewobene Licht. Die Stimme der Urenkelin, die den ersten kletterbaren Baum sofort in Besitz nimmt.

Wir stehen in Stille, einem Schweigen nach den letzten Worten, dem Spiel der traurigen Flöte, das der Wald sogleich an sich nimmt und verbirgt und eintauscht gegen die Vielfalt seiner eigenen Stimmen. Etwas raschelt im Laub. Die Sonne blinzelt.

Dicke Erdbrocken poltern auf Rosen und Urne. Wenige Spatenstiche, ein Schwung mit dem Rechen, und Laub bedeckt wieder die Stelle. Wir wenden uns ab, kneifen die Augen gegen das Licht zusammen, sehen noch einmal auf zu der Eiche, die das Grab beschattet, wischen uns die Tränen ab und machen uns auf den Heimweg. Da ist es gut, daß die Sechsjährige schon wieder lacht und herumtollt, daß sie jetzt bei uns ist, mit ihrer unbeirrbaren, so rasch zurückgewonnenen Fröhlichkeit, uns Großen ein Trost.

Samstag, 23. April 2005

...

Dreieinhalb Stunden halbverschlafene Zugfahrt durch Sonnenkanäle und neben schlammigem Glitzern her haben mich hier in diese mir plötzlich recht fremde und verstörende Runde gebracht. Allein war ich, und allein in Gedanken an Dich, bedachte und betrachtete, was wir gestern gesprochen haben, was wir heute einander geschrieben haben, was ich Dir übermorgen sagen will. Ich hätte so gerne einen ruhigen, sich bis in den Nachmittag gelassen dehnenden Morgen mit Dir, in Regen oder Licht, mit Stimmen von Vögeln oder Nebel vorm Fenster und dem Duft Deines Atmens unter meiner Haut.

Mein Vater zum Zerspringen gedeckelt und abgedämpft aggressiv, daß es mich selbst vom Stuhl wegreißen will, auf dem ich festgewurzelt ausharre, während das Bier im Kühlschrank kaltet. Meine Patentante plappert, die Großmutter zeigt eine Anhänglichkeit an ihren Enkel, die ich nicht vertrage. Das Begräbnis morgen erscheint mir wie eine zu spät gefeierte Feier, ein Nachtrag zu etwas, das schon längst abgeschlossen ist, eine schmerzvolle Fußnote, ein Zerwühlen, abermalig, eine Qual.

Sonntag endlich Aufbruch, das scheint in weiter Ferne. Das ganze lange Geratter und Gerüttel wieder rückwärts und diesmal mit noch größerer Ungeduld im Herzen ... ich laß mich tragen und kann vielleicht wieder schlafen. Ich hätte so gerne einen Morgen mit Dir für uns allein.

Donnerstag, 14. April 2005

...

Lange gehörten mir meine eigenen Stunden nicht. Wo waren denn die Lieder, wenn ich sie brauchte? Warum ließen sich die Stimmen nicht mehr deuten? Wege liefen von selbst hin und her, ohne den Fuß von Engeln, der sie verhielt. Winde legten Laub zu apokryphen Mustern, und die Nächte versteckten sich vor meinen Schlüsseln. Lange Zeit winterte es, von Zimmer zu Zimmer. Nun aber müssen die Nächte in meine Hand zurückkehren und die Tage wieder jung werden.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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