Werke & Tage
Ein Stein am Straßenrand, dicht an den Lärm der Autos gefügt, die dort wieder fahren, wo ich gerade noch der Erschöpfung in die Arme lief.
Den Kleiderbeutel zwischen den Knien, die Füße müde im Staub, beginnt in der Stirn Fieber zu lärmen. Der Vater sucht nach dem Wagen, die Autos brausen, über mir schlagen die Linden alleeweise aus. Alles rückt weit fort. Die Gesichter und Stimmen dieses Vormittags schauen mich befremdet an. Es will mir das alles lächerlich scheinen, als wäre, was ich getan habe, ein völlig sinnloses Opfer. Ich schüttele den Kopf. Keine Hand, die sich mir auf die Stirn legt. Ich weiß nicht einmal, ob diese Berührung mich jetzt stärken würde, ob sie hilfreich wäre. Doch ohne sie sein zu müssen, ist schwer zu ertragen.
Da verzieht sich mir das Gesicht wie von selbst zu stillem Weinen, als welkte die heiße Stirn. Die Häute sind dünn geworden wie nie. Wie sehr ich mir was vormache, mir ein standhaft erkämpftes Tapferglück einrede, tagein, tagaus: Das verstehe ich in diesem Augenblick, und daß 42 Kilometer ausreichen, mich aller Wehrhaftigkeit zu berauben und mir in aller Schärfe klarzumachen, wo ich bin und wie die Dinge liegen. Es ist ein Augenblick entlaubten Alleinseins, maskenloser Verlassenheit.
Aber ich weinte nicht. Ich wehrte mich. Nicht in all dem Lärm, dachte ich, alleine auf einem Stein am Straßenrand hockend, nicht zwei Minuten zwischen Sitzen und Wiederhochmüssen, nicht vor dem Vater, dem ichs nicht hätte erklären wollen oder können.
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Talakallea Thymon - am: 12. Apr, 11:32 - in: Werke & Tage
Vor einigen Jahren stolperte ich in einem Zeitungsartikel über die Formulierung: … die Generation der heute 30jährigen. Worum es ging, weiß ich nicht mehr, es spielt auch gar keine Rolle; auf jeden Fall blieb ich aber an dieser Formel hängen. Es dauerte eine Weile, ehe ich begriff, was damit nicht stimmen wollte. Dann bemerkte ich plötzlich: Das bin ja ich! Die Generation soundso – bislang waren das immer die anderen gewesen. Erwachsene halt, Menschen mit Beruf oder Familie, Kindern gar oder Eigenheim, jedenfalls halt die anderen. Plötzlich sollte ich dazugehören, wurde frecherweise eingegliedert, ohne gefragt worden zu sein.
Sofort wehrte es sich mit Macht in mir. Sorgsam prüfte ich die Aussagen über jene nebulöse Generation der heute 30jährigen, zu denen ich also gehören sollte. Ich bin nicht typisch, dachte ich. Ich bin keine Generation soundso. Ich lasse mich nicht klassifizieren. Ich lasse mir kein Etikett aufkleben: Gehört zur Generation soundso. Zu erwartende Werte, Träume, Eigenschaften, Makel sind: … Ich lasse mich nicht mit andern in einen Topf stecken. Typisch sind höchstens die anderen. Ich bin es nicht.
Vielleicht gehört extremer Individualismus aber zu den Eigenschaften der Generation soundso – und führt sich, wie die Toleranz, selbst ad absurdum?!
Jedenfalls konnte ich mich in den Aussagen des Artikels über meine Generation nicht wiederfinden. Täusche ich mich, oder atmete ich auf? Es war ja nicht so sehr die Angst, man könnte über meine Generation und also potentiell über mich unangenehme Wahrheiten enthüllen oder mich gar angreifen, nein: Es war die besserwisserische Zuschreibung von Eigenschaften an sich, die mir die Zornesröte ins Gesicht trieb. Als müßte mir jemand sagen, wer ich sei. Als wüßte jemand besser über mich bescheid als ich selbst, noch dazu, ohne mir je persönlich begegnet zu sein.
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Talakallea Thymon - am: 30. Mär, 11:43 - in: Werke & Tage
„Ich darf das aber“ (Anm.: Das Fahrrad in der Hauptverkehrszeit im Zug mitnehmen, die Straße zuparken, den Kinderwagen in einen Bus schieben wollen, in dem schon drei Kinderwagen stehen, bei offenem Fenster Schwermetallmusik hören, mit dem Auto durch den Wald fahren eqs)
Entgegnung: „Ich frage Sie nicht, ob Sie das dürfen, ich frage Sie, ob Sie das für eine gute Idee halten.“
„Deine Kritik ist aber nicht konstruktiv.“
Entgegnung: „Eine Kritik muß nicht konstruktiv sein, um Berechtigung zu haben.“
„So ist es aber nun mal nicht.“
Entgegnung: „Wie die Welt ist, kann schwerlich ein Argument dafür sein, wie sie sein sollte.“
„Aber was würdest du denn statt dessen vorschlagen?“
Entgegnung: „Es geht nicht darum, was ich vorschlagen will, es geht darum, ob meine Kritik eine begründete Kritik ist.“
„Das würdest du auch nicht tun.“
Entgegnung: „Doch, würde ich.“
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Talakallea Thymon - am: 18. Mär, 11:46 - in: Werke & Tage
Mit bestürztem Erstaunen lese ich, daß einer, den ich für einen Meister halte, sich abfällig äußert über einen, den ich gleichfalls für einen Meister halte. Das steht quer. Das trübt ein.
Warum aber?
Die Anfälligkeit ist immer da, mir das eigne Entzücken von jemandem ausreden oder auch nur säuern zu lassen, dessen Urteilskraft ich hoch einschätze, und beeinflußbar bin ich deshalb, weil sein Schaffen mir Bewunderung abringt. Daß dieser von mir bewunderte Künstler einen anderen Künstler, den ich auch bewundere, ablehnt, will mir nicht passen. Ich schließe aus dem Gegenstand meiner Bewunderung, der Kunst des Meisters, auch auf eine bewundernswerte Urteilskraft in diesem Meister. Wahrscheinlich ist das schon verkehrt. Die Wirkung ist die, daß ich, aufgrund angenommener eigner Kleinheit, meinem Urteilsvermögen nicht mehr trauen mag.
(Als gäbe es ein Maß für die Gültigkeit eines Geschmacksurteils: Aber das ist das stillschweigende Als-ob einer jeden künstlerischen Kritik.)
Die Frage ist, ob es sich vereinbaren läßt, und wenn nicht, wer sich als der Stärkre erweist. Lassen will ich durchaus von keinem der beiden.
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Talakallea Thymon - am: 9. Mär, 11:56 - in: Werke & Tage
Besser ein Ziel, das man nicht erreichen will, als gar keines.
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Talakallea Thymon - am: 3. Mär, 12:11 - in: Werke & Tage
Ein seltsames, sich selbst in Verwirrung begegnendes Unausgewogensein aus Verfrüht und Frühreif einerseits und verträumtem Spätdran, ja, schneckenhäuslichem Zurückbleiben andererseits. Das war ich. Manchmal denke ich, das ist es immer noch mit mir, mein Wesenszug, daß ich so uneins mit mir bin, und beheimatet zur selben Zeit in verschiednen Zeiten, Teenager noch, Erwachsener schon, dummer Bub und verstockter Greis in einem.
Kein Wunder, daß ich nicht aus noch ein wußte, Wurde geschlechtsreif im dreizehnten Lenz, las aber noch Kinderbücher. Wunderte mich über meine weiterhin völlig unbeflaumten Körperstellen. Selbstspiel mit 2 entdeckt, mit 20 erst kam es zum Anderspiel. Schockiert, als ich mit 14 eines Nachmittags sehen mußte, daß es sich in den Achselhöhlen der Mädchen erwachsen kräuselte (plötzlich waren es keine Altersgenossinnen mehr, und das schlimmste, meiner übern Augenblick erwachsenen Angebeteten war ich – Kind noch immer – nicht gewachsen, mußte aufgeben, ein Abgrund zwischen uns). Voller Zärtlichkeitswunsch seit 13, aber die Mädchen fremde Wesen, und nie hätte ich den Mut gehabt, eine in Öffentlichkeit zu küssen oder auch nur händchenhaltend durch die wachsamen Gänge des Schulhauses zu wandeln. Ja, noch 22jährig mit der ersten Freundin erinnere ich mich an das Schwindelgefühl, als wir am Morgen nach der ersten Nacht im Café saßen, uns gegenseitig mit den Augen am Ineinanderstürzen hinderten oder unter aller Augen küßten. Unheimlich war das. Schön zwar. Trotzdem schauten in diesen Augenblicken alle uns zu, ich spürte es so deutlich wie das Warme ihrer Lippen. Jugendlicher Widerständler und Oppositioneller, Aufbegehrer und Freiheitskämpfer, doch nie das Bedürfnis, abends mit Gleichaltrigen wegzugehen. Komponierte künstliche Sprachen. Lernte seit der achten Klasse Latein mit dem Feuereifer eines Studenten, wußte mit 14, was ich studieren wollte – aber war zu verträumt, auch nur zu denken, andere Quellen (Uni-Bibliothek) könnten mir offenstehen. Andere Jungs gingen Biertrinken und heimlich rauchen, ich spielte auf der Straße Ritter und schnitzte mir ein Holzschwert. Schwärmte jedoch im selben Alter für Musik von Händel und Pergolesi, und begann, mir Altblockflöte selbst beizubringen. Baute ein Segelschiff aus Pappe, das für Playmobilfigürchen geschaffen war und experimentierte zur selben Zeit mit ausgefallenen Masturbationstechniken. Las den "Herrn der Ringe" neben Prinz-Eisenherz-Heftchen.
Lange war ich furchtbar verliebt in eine Klassenkameradin, die ich irgendwann einem andern Mädchen verkünden hörte, sie „fahre nur auf ältere Jungs ab“. Komisch, ich fuhr nie auf jüngere Mädchen ab. Wohin sollte das führen? Erste Freundin eigentlich mit neun, dann aber erst wieder mit Zweiundzwanzig. Doktorspiele weitestgehend übersprungen, bis auf einen kribbelnd gemeinsamen Klogang. Küssen geübt mit meinem Bruder.
Zerrissenheit will mir als Wort dafür einfallen. Doch vermutlich ist es immer und bei jedem so. Ist es ein Zeichen des Erwachsenwerdens, daß die Dinge plötzlich nicht mehr zueinander passen wollen. Nur: Es scheint sich seitdem so verflixt wenig daran geändert zu haben.
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Talakallea Thymon - am: 26. Feb, 12:25 - in: Werke & Tage
Ich begreife es plötzlich in dem Augenblick, da ich zum Telephonhörer greife. Ich habe gar nicht darüber nachgedacht, wen ich anrufen will. Ich mußte nicht in mich hineinhorchen, um herauszufinden, wer nun gut für mich ist. Wer mir Trost spenden kann. Natürlich. Einzig. Wer sonst. Die Nummer wählt sich von selbst.
„Soll ich dich mal in den Arm nehmen?“ Und sie nahm mich in den Arm. Dann sang sie. Wir lümmelten in ihrem Bett, und sie spielte Guitarre und sang. The man who couldn’t cry. Σαμνιότισσα. Η Μάγια. Irgendwas von einem Duo, das sich Indigo Girls oder so ähnlich nennt, und das sie immer singt, und das wunderbar traurig und tröstlich zugleich ist, and I walked to the mountains and I drank from the fountains … Danach kommt mir der Gedanke, Doppelpunkt, sie ist der Mensch, der mir zu Zeit am nächsten steht. Ohne den es verdammt eng würde. Der Mensch, den ich um mich haben möchte, dessen Nähe ich entbehre, bei dem ich mich ausweinend furchtbar schwach und erbärmlich sein darf, wenn es hart auf hart kommt, so wie neulich.
Das kann ich gut finden oder nicht, kann es wollen oder nicht, kann mich dagegen auflehnen, mit den Schultern zucken, mich selbst verlachen oder ohnmächtig mit dem Kopf gegen die Wand rennen – es ist einfach so, es ist nicht zu ändern.
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Talakallea Thymon - am: 23. Feb, 12:35 - in: Werke & Tage
In den Abend- und Morgenstunden geht dieser Tage schon das helle Sticheln der Meisen auf und nieder, während die Vorgärten unter Graupelschauern verdämmern und die Tage felsdunkel sind, die Luft noch hart wie Glas. Und doch flackert im Wald Amselgeläut und ist anhaltend und schon mehr als nur ein verirrter Versuch. Das ist schon wirklich, das gilt schon. Der Frühling kommt nicht, er ist schon da.
Und mit ihm wieder das Alte: die Angst und die Unruhe. Hellgrellgedanken und kribbelnde Beine. Die Sorge, nicht wach genug zu sein für soviel
schnelle Zeit
und nicht schnell genug zu sein, um mit dieser Zeit mitzuhalten. Die Angst ist das, nicht da zu sein im rechten Augenblick, und alles, was dieser Augenblick böte, aus den Händen, die woanders hinsehen oder nur bei sich selbst sind, zu verlieren.
Heute, am 17. Februar, laut schallend und sich in meinen selbstverliebten Ärger über Verkehr, Wetter, Lärm und Unruhe hineindrängend, ungefragt, ungebeten, eigensinnig und wunderwunderherrlich, der erste Buchfink. Einige Tage später, im Wald, Goldammer und Zaunkönig. Es befremdet, muntere Frühlingsstimmen zu hören, während der Schneeregen in dicknassen Schnee übergeht und die Nacht plötzlich wieder früh dran ist, zu früh fürs Jahr.
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Talakallea Thymon - am: 21. Feb, 12:39 - in: Werke & Tage
In einem Land, wo die Zikaden die Luft auf den Flügeln trugen und die Sonne nach Pinien schmeckte, da trug einmal ein Riese einen fünfjährigen Knaben auf seinen Schultern. Der Knabe hielt sich fest im rauhen Haar, und der Riese nahm jede Wegkehre mit wildem Schwung, daß sein kleiner Reiter vor Vergnügen johlte. Die Sonne schien, und der Großvater war so ewig wie Meer und Sand und Fels und der Duft der Bäume.
Wenn ich mich heute erinnere, nun, da ich erwachsen bin, denke ich zurück an das Vertrauen des Knaben, daß die Welt gut und ewig sei.
Was bleibt, ist dies: Einmal war ich von einem Hafenmäuerchen gestürzt und lag plötzlich auf der harten Erde, der Riese war vorangegangen, hatte nichts bemerkt, und ich schrie, ich schrie nach ihm. Da wandte er sich um, sah mich liegen und war im nächsten Augenblick voller Sorge bei mir. Er hob mich auf, tröstete mich, so gut er es verstand, und während ich in einem fort schluchzte gingen wir nach Hause. Mein ganzer Körper war voller Schrammen und alles tat weh. Da ging aber einer vor uns, der hatte beide Arme in Gips. „Schau“, sagte mein Großvater, „den hat es arg erwischt, der hat es bestimmt viel schlimmer gehabt als du.“ Gar nicht mahnend sagte er das, und nicht im geringsten streng: Er legte den Arm um mich, neigte sein Gesicht dem meinen nieder und deutete augenzwinkernd auf das fremde Leid. Damals war es mir wohl kein Trost, aber er gab mir in diesem Augenblick etwas mit, das mir oft, und ohne mich an den Vorfall zu erinnern, geholfen und mich in mancher Traurigkeit getröstet hat: Der Gedanke, wie gut man doch noch dran ist, und daß es andere viel schlimmer haben als man selbst.
Was bleibt, ist auch: Einmal schnitzte er mir ein Holzmesserchen, ein wahres Meisterstück war das, das ich Ahnungsloser irgendwann verlor. Er erklärte mir eines Abends, was das Wort Samariter bedeutet. Er baute mir ein Puppenhaus aus Pappe, das langsam unter meinen Augen seinen geschickten Händen entwuchs.
Was bleibt ist auch: Er war ein bis zur Unerträglichkeit schwieriger Mensch. Da gibt es nichts zu beschönigen oder zu verklären. Doch wie gering wiegt das in den erinnernden Händen, plötzlich. Jeder Mensch will ertragen sein. Und wie wir alle wollte er Liebe geben und Liebe empfangen. Wir können nur hoffen, daß er sie fand und zu geben verstand, und daß es gut für ihn war.
Ich will mich entscheiden, wie ich ihn vor allem und zuallererst in Erinnerung behalten will. Und ich entscheide mich: Für seine immense Großherzigkeit. Für seinen Gerechtigkeitssinn. Für seine grenzenlose Hilfsbereitschaft. Für seinen unbeugsamen Stolz. Für seine Kompromißlosigkeit. Für seinen Charme. Für seine völlig verrückten und in ihrer Unvernunft so vernünftigen Träume von einer besseren Welt.
An einem Balkonfenster sah ich ihn stehen, seine hochaufgetürmte Silhouette, riesig, schweigend, fern und ganz und gar unnahbar. Einsam, denke ich, muß er oft gewesen sein, einsam mit seinen Erinnerungen, die er mit niemandem teilen konnte; einsam selbst unter den Augen des Enkels, der ihn aus dem Bett heraus beobachtete, wie er gegen den Abendschein gelehnt stand und rauchte.
Einmal hob er auf einer gemeinsamen Bahnfahrt einen Zipfel des schweren Tuchs, das das Grauenhafte in seinen Erinnerungen bedeckte. Einmal und noch einmal. Es war nur ein Zipfel. Doch mir reichte es. Er wußte, als er mir den Vergipsten zeigte, wie schlimm es kommen kann, denn er hatte es mit ansehen und am eigenen Leibe erfahren müssen. Und so kann ich nur staunen über den Lebensmut, der manchmal so voll ihm aus dem Herzen quoll; über den Mut, der nötig war, das tonnenschwere Gewicht eines fünfjährigen auf den Schultern zu tragen.
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Talakallea Thymon - am: 14. Feb, 12:40 - in: Werke & Tage
Warum sollte jemand kristallographieren? Warum eigentlich? Es erscheint so sinnlos wie einen Kalender berechnen oder den Kreidestaub langsam langsam zu buchstabieren. Wie wir es doch immer tun. Wie wir es immer schon getan haben. Wann fing es an, und wo soll es denn auskommen? Man könnte, aber nein. Man könnte, und es liegt darin so viel, daß es unmöglich ist. Man könnte, und die Last der gedachtsamen Taten und ebenso der Nichttaten würgt schon seltsam mächtig die Handgelenke, daß sich schleuniges Wegsehen einstellen muß. Wem die Nägel brennen, der zuckt zurück. Frage nicht, komm, laß es, frag nicht, was ist, wenn es nicht aufhört zu brennen. Kristallographie brennt und Kreidestaub buchstabieren brennt, und die Kalender sind gnadenlos im Voraus, weit im Voraus sind sie das. Sie rufen die Tage nur aus. wir aber müssen sie leben. Das klingt bedächtig. Aber es ist voller Hast.
Wenn es sich ereignet, merken wirs nicht. Wenn wir merken, ereignet es sich nicht. Deshalb setzen wir uns Scheuklappen auf, damit wir nicht beständig sehen müssen, was wir nicht sehen können. Und so treiben wir Kristallographie. Oder wir züchten Pferde. Schach ist auch ein Ausweg ohne Ausgang, ein gewolltes Anallemvorbei. Wie überhaupt alles was wir spielen. Wenn nicht –
Lüfterrauschen zerwühlt, was sonst Stille wäre, zerschlägt die zähen Fäden des Schweigens, das sich der Raum überwirft, schiene die Sonne, könnte man Staub sich wirbelnd erheben sehen. Doch die Fenster sind blind vor Wolken und Nebligtrüb, der Saft klebt süß am Gaumen. Aus den Augen quillt die Müdigkeit wie Leim. Lust. Lust war. Das kann man nicht bezweifeln. Was bedeutet diese Lust fürs Kristallographieren? Was bedeutet die gewesene Lust, was bedeutet sie, worin unterscheidet sie sich denn vom gewesenen Schmerz. Lust. Lust war und hieß die Zeit erbeben und stehen. Lust ist jederzeit, die Finger wüßten, was sie zu tun haben. Schmerz ist auch jederzeit. Schmerz war auch. Aber. Was sonst? Irgendwo in dieser zerrüttelten Stille sind Gedanken an Vergangenes, an Nächte vor aller Kristallographie. An Nächte, an eine Nacht.
Skispringen, denkt er. Im Flug mehr sein, als man selbst. Abheben, einmal nur Abheben, das eigene unerträgliche Gewicht: von … sich … abwerfen. Und geschlossenen Augs, verpreßten Atems, zum Stehen gebrachter Gedanken sich auflösen – für Augenblicke, – die ewigkurz sind – im Flug – endlich – Stille.
von:
Talakallea Thymon - am: 27. Jan, 08:50 - in: Werke & Tage