Werke & Tage
Über Kirchturm und rauchwürgende Kamine hin gellt der Dreiecksschrei der Gänse. Asphaltgeruch mit Nässe und Pferdemist klebt in der Nase, die Stirn schmerzt, die Autos rollen wie wild, als hätte Ziel und Fahrt und Weg irgendeine Bedeutung, die Züge quietschen und halten und halten. Bäume hängen am Himmel fest, und ich bin so müde bis ins Innerste hinein. Zermüdet, zermürbt, zerfühlt. Zerfasert und zerdünnt bis an die Grenze einer Leere, die so dichtgepackt ist, daß sie keinerlei Empfindung außer dem Wahrnehmen ihrer selbst mehr aufnehmen kann. Ich möchte mir eine Decke aus grauschweren Wolken über den Kopf ziehen und schlafen, schlafen, schlafen.
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Talakallea Thymon - am: 11. Nov, 11:40 - in: Werke & Tage
Gestern nacht plötzlich, in jenen gefährlichen Stunden, da die Erinnerungen an uns wallen wie traurige Vogelschwingen, wie Rauch, der endlos den Kaminen entquillt, vermisse ich meine ehemalige Mitbewohnerin, Carmen, die vor drei Monaten aus unserer WG ausgezogen ist. Wir haben kaum je ein intensives Gespräch geführt, ja, wir sind uns kaum je wirklich über den Weg gelaufen. Sie war tags über nicht da, ich nachts meistens nicht. Sie aß gerne auf ihrem Zimmer, fernsehenschauend, ich in der Küche. Ein Hallo hier oder da; ein bißchen Lästern über die Jungs, die im Hof ihre Mofas frisieren. Ein Lächeln hier, ein Grinsen da, da war alles. Und plötzlich vermisse ich sie wie verrückt. Ist es diese schlimme Stunde, vier Uhr morgens, wenn man glücklich von der Toilette zurück ist und die warme Bettwatte einen wieder umfängt, diese Stunde, da plötzlich Altes, Vergessenes, Verdrängtes, Übersehenes und Vergangenes wieder hochkommt wie zäher, unverdauter Brei? Ist es die plötzliche blitzwache ‚Erkenntnis, daß uns nichts, aber gar nichts bleibt auf unserem Weg, und wir alles verlieren werden, früher oder später? Ist es das Gefühl der Hilflosigkeit, und daß uns alles, was wir an Leben schaffen und uns als Gewinn anrechnen, unaufhaltsam, von Minute zu Minute entgleitet? Wie oft schon lag ich plötzlich wach, schlaflos vor plötzlichem Weh.
Carmen hatte zwei Mäuse, die nachts in ihrem Riesenterrarium herumfegten und nagten und wühlten. Wenn ich wandern war, brachte ich ihnen immer etwas zum Knabbern mit, Fichtenzapfen, ein Stück Borke, Hainbuchenzweige. Es dauerte nie länger als ein zwei Tage, bis alles zu Sägemehl verarbeitet war. Daran dachte ich jetzt, oder wie wir zu dritt kurz vor ihrem Auszug die Küche renoviert haben, Claas, sie und ich. Wenige Tage später sagte sie uns, sie wolle mit ihrem Freund zusammenziehen.
Oder mein Mitbewohner Jörn, mit dem ich über drei Jahre zusammenwohnte, in einer anderen Zeit, damals, in Plittersdorf. Jörn, dem ich mein Herz über eine gerade vollzogene Trennung ausschüttete, kaum daß wir einen Monat zusammenwohnten. Jörn, der mir alles über seine indonesische Freundin erzählte. Wir teilten das kleine Appartement vom Winter 93 bis zum Sommer 97. Eines Abends füllten wir billige Weingläser von IKEA mit Wasser und bauten eine kleine Glasorgel auf; dann probierten wir solange am Wasserstand herum, bis es uns gelang, die Titelmelodie von Once upon a time in the west zu intonieren. Wir saßen bis zwei Uhr morgens in der Küche, berauscht mehr von unserem Spiel als vom Chianti, glücklich wie kleine Jungs.
Was ist davon geblieben?
Nichts.
Solcherart sind die Dinge, die plötzlich da sind, um vier Uhr morgens, zwischen Schlaf und Schlaf, so nah, als wäre man noch mittendrin, und so schmerzvoll weit weg, daß es einem eng wird in der Brust. Wo soll man das alles nur hintun? So vieles geschieht, ist geschehen, wird geschehen. Zuviel, um alles in all seinen Tragweiten, Facetten Farben und Gerüchen je so durchdenken und erinnern zu können, daß man sagen kann, es ist gut. Dazu ist es zuviel, ist es zu groß. Wir schlucken es nicht. Wir lösen es nicht. Wir sind nie mehr frei. Wir schieben nur fort. Und unter dem Schleier hervor kriecht es dann nachts und macht uns weh vor Vergeblichkeit und Vorbei, vier Uhr morgens, zwischen Schlaf und Schlaf.
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Talakallea Thymon - am: 11. Nov, 11:38 - in: Werke & Tage
Kann man mehrere Ohrwürmer gleichzeitig haben? Man kann. In meinem Fall sind es ungefähr 12, die summen und spielen und zupfen und singen in meinem Kopf schon den ganzen Tag. Von neuen Leuten und Kamillen, von Krampenschlägen vor Tag und von dort, wo die Malven blühn; und von einem Pfefferminzmund und schweren Händen und kühler Haut, und von einem Glas Wein, das vielleicht das letzte Glas sein wird. Ich laufe durch den Wald und über die Felder, auf denen der untergegrabne Kohl faulig seinen Duft aussendet, und lausche und lausche, und über mir ziehen schon wieder die Gänse dahin, die den großen Himmel von sich geworfen und abgeschüttelt haben, und noch einmal schreien und schreien, ehe sie auf und davon sind für wieder einen Winter.
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Talakallea Thymon - am: 7. Nov, 11:45 - in: Werke & Tage
Etwas, das mir geblieben ist aus Kindertagen. Das Entzücken, eine Geschichte zu hören, eine Geschichte vorgelesen zu bekommen. Dem Unmittelbaren des Stromes von Wörtern und Sätzen ausgesetzt zu sein, die eine echte Stimme formt ... und keinerlei Kontrolle zu haben über Geschwindigkeit und Pausen, ganz der eigenen Aufmerksamkeit anheimgegeben und vertrauend: Wieviel echter war das, als es das Lesen heute ist. Wie groß dieser Bann doch war, kaum daß die magischen Eingangsworte aufklingend ihren Zauber zu verströmen begannen ... Und wieviel kunstvoller, weil entfernter, weil entrückter, weil traumhafter, als es ein ähnlich uneingreifbares Medium, der Film, je sein könnte. Manchmal noch geht es mir heute noch so, daß ich einen Text erst dann richtig zu schätzen lerne, nachdem ich ihn gehört habe.
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Talakallea Thymon - am: 26. Okt, 08:52 - in: Werke & Tage
Geht mir jetzt schon den vierten Tag im Kopf herum. Wispert zwischen den Schläfen. Läßt sich nicht abschütteln, überdecken, tilgen, wegreden, ablenken. Ist da und summt.
θα κεράσεις απ’το μέλι των ματιών σου
In die Räume Risse Ruhelosigkeiten hinein bleibt nur: Antwortworte verketten und weben und mir erflüstern und vorsagen, und hoffen, daß die Tage anders werden.
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Talakallea Thymon - am: 25. Okt, 08:55 - in: Werke & Tage
Auf einem Friedhof entdeckt. Da stehen wir, lesen und staunen in die Sonne hinein. Das ist mal wieder tiefschön und wundertraurig. Jede Bemerkung wäre überflüssig gewesen. Leider war ich leichtfertig und ein Knittern kam durch den Augenblick. Trotzdem ... trotzdem was?
Trost
Unsterblich duften die Linden –
was bangst du nur?
Du wirst vergehn, und deiner Füße Spur
wird bald kein Auge mehr im Staube finden.
Doch blau und leuchtend wird der Sommer stehn
und wird mit seinem süßen Atemwehn
gelind die arme Menschenbrust entbinden.
Wo kommst du her? Wie lang bist du noch hier?
Was liegt an dir?
Unsterblich duften die Linden. –
(Ina Seidel)
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Talakallea Thymon - am: 25. Okt, 08:54 - in: Werke & Tage
Die Sonne schneit ein vorletztletztes Mal auf Gräber. Licht zerwühlt Gelblaub. Blätter schlürfen an den Schritten. Leere Gießkannen stehen in blauer Einsamkeit, starren ins nadelgeschmückte Wasser, woraus ihnen ihr Spiegelbild traurig entgegensteigt. Schwarzgekleidete Trauer wartet hinterm Tor: Doch Lachen fegt alle Stille hinweg, und das Licht darf jubeln und willkommen sein. Alles ist nah und betastbar. Alles ist Jetzt und will den Augenblick sprengen. Vorher ist Nachher ist wieder vorher, ehe sich alles in einem Wirbel verabschieden darf und als Erinnerung Schönheit wird. Die Gräber umkreisen sich. Die Blicke verstecken sich bald, bald springen sie umeinander wie junge Hunde. Und da ist plötzlich schon immer alles ganz einfach. Überall lächelt es. Und die letzten Fremdheiten trugen die Marienkäfer fort nach Nimmerland.
Ein Streif und eine Berührung unter Wolle hier und Wolle da. Schritte laufen aufeinanderzu nebeneinanderher. Nichts war vorher, und die Stunden haben den langsamen Schwung ihrer Herzen eben begonnen.
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Talakallea Thymon - am: 24. Okt, 08:57 - in: Werke & Tage
Gerade beim Stöbern in verschiedener Autoren Mottenkisten
hier fündig geworden. Ich lese das Wort, stutze, und dann verstehe ich, und eine verschüttete Welt öffnet sich. Ein einzelnes Wort führt mich zurück in eine tintenbekleckste Holzbank. Ich habe Sand in den Sandalen und Filzstiftkleckse an den Fingern, und die Hefte und Stifte und Bücher duften fremd und aufregend und ein bißchen gefährlich. Frau Mayer-Ullmann dirigiert, und 30 Kinderkehlen plärren: „Auto fahren, Auto fahren, heute wolln wir Auto fahren“ Eine neue Seite vom „Fehlerteufel“. Eine neue Seite im Lesebuch, groß und bunt und zur Eroberung freigegeben, wie ein fremdes Land. Hefte, Ordner, rauschendes, glattes, sinnlichweißes Papier, Plastikumschläge, Schulranzen. Und: ein Mäppchen. Man kann es aufschlagen, und darin schimmern, wie Schmuckstücke auf Samt, Stifte, Füller, Radiergummi, sogar ein kurzes Lineal.
Eigentlich langweilig. Ich weiß nicht mehr, wo ich dann das andere zuerst sah, wer es hatte, wem es gehörte, wer es haben durfte, das verruchte Ding, die Verführung zur Sünde, der Feind jeder blitzenden Ordnung, herrlich und wild und viel schöner als der öde aufgereihte Schmuck der Stifte. Wie konnte ich das vergessen! Der Inbegriff aller Arten, seine Stifte zusammenzuhalten. Die ungestillte Sehnsucht meiner ersten Schuljahre und laut den Erwachsenen Anfang aller Verwahrlosung. Schlamperei eben. Was für ein schönes Wort: heute, wo ich eines habe, ohne verwahrlost zu sein, hätte ich gar keinen Namen mehr dafür gehabt. Jetzt weiß ich ihn wieder.
Das Schlampermäppchen!
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Talakallea Thymon - am: 21. Okt, 08:58 - in: Werke & Tage
Es hatte sich angekündigt. Etwas war geschehen, auch wenn man noch nichts davon merkte, nicht sogleich, etwas Endgültiges, war geschehen oder geschah gerade irgendwo, oder würde zwangsläufig, unausweichlich, geschehen. Keine Massenpanik, keine Flüchtlingsströme, keine Plünderungen, keine Aufrufe zur Umkehr, zum Sündenbereuen. Alles geht seinen Gang. Gleichzeitig ist alles anders, verschoben, falsch, alsobnichtswäre. Eine Kulisse? Dumpfe Angst, eigentlich eher das Gefühl, jetzt alles aufgeben zu müssen. Nicht der Tod steht bevor, sondern eine gräßlich veränderte Welt.
Später ein glühender, hitzewabernder Ozean. Daraus steigen glutflüssige Stränge zitternd und langsam, wie Schlangen oder Schleimpilze aus Öl, empor. Tropfen lösen sich aus der leuchtenden Masse, ein gelbliches Magma. Der Ozean kocht. Über dem Gezitter der aufstrebenden Fäden flimmert Glutdunst. Dunkler Himmel, violett, fast schwarz. Es ist ganz still, eine schweigende Hölle.
Später im Wasser. Ich schwimme. Da sind noch andere Menschen mit mir. Rotbraune Flächen aus irgendeiner Säure schwappen träge auf der sanften Dünung. Jemand sagt, daß es Säure ist. Ich weiß nicht, ob ich es berührt habe. Ich spüre nichts.
Dann an Land. Ein felsiges, kahles Ufer. Ich klettere barfuß über Klippen. Andere Menschen sind auch da. Überlebende? Da liegt ein Stein mit so etwas wie einer Inschrift. Ich freue mich. Irgendeiner lacht aber wütend über mich, will den Stein, den Text darauf, weghaben. Für mich ist er ein Überbleibsel, eine Erinnerung, eine Hoffnung. Ein Bewahren. Der andere weist mich ruppig darauf hin, daß das ein christlicher Text sei, in einem Ton, der mir sagt, daß mir das doch klar sein müsse. Und wirklich, da ist ein Symbol, ein Fisch? Ein Kreuz?
Später wieder die Kulisse. Ein Reisebüro. Die Welt gleichzeitig vor und nach dem Weltuntergang. Oder der Weltuntergang des einen Traumes stiehlt sich heimlich in den nächsten Traum, und bildet einen düsteren Hintergrund. Ich will verreisen, gleichzeitig ist mir klar, daß es Wahnsinn ist, jetzt ans Reisen zu denken. Am selben Tag will ich fliegen, nach Griechenland. Aber es ist alles ausgebucht, kein Hotelbett mehr frei, den ganzen August. Aber ich will ja kein Hotelbett, ich will nur den Flug. Nein, sagt man mir und sieht nicht einmal zu mir hin dabei, auch Flüge gebe es keine mehr. Da beschließe ich mit schwacher Hoffnung, zum Flughafen zu gehen und es dort zu versuchen. Ich verlasse den Schalter des Büros und zwänge mich unter enormen Schwierigkeiten mit meinem Gepäck durch eine sperrige Glastür.
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Talakallea Thymon - am: 19. Okt, 09:00 - in: Werke & Tage
Der Tag will nicht. Das Licht klebt an der Nacht fest. Die Bäume schauern so leise, als wolle es gleich wieder dunkel werden. Ich bin nicht sicher, ob ich das schlimm fände. Im Zimmer ist es still, obwohl das Radio läuft. Der Gedanke streift mich, daß seit zwei Wochen die ersten Nachrichten des Tages stets das Wort „Anschläge“ enthalten. Bis auf diejenigen Nachrichten, die das Wort „Sozialreformen“ enthalten. Der Gedanke stört mich nicht. Er taucht wieder weg. Musik erklingt, die als Kammermusik von Max Reger angesagt wurde, aber so klingt, als sei sie von Schumann, vielleicht Mendelssohn. Ein weiterer Gedanke taucht auf: Was geht wohl hinter den Kulissen vor sich, wenn ein Musikstück falsch angesagt oder zur richtigen Ansage das falsche Stück aufgelegt wurde? Panik? Hektisches Herumsuchen in den CDs? Herzklopfen? Oder gelassene Heiterkeit? Und wie löst man das Problem der Verzögerung, wenn die Sendung doch bis auf Sekunden genau ausgetüftelt war? An dieser Stelle überkommt mich der Verdacht, daß meine Gedanken mir selbst zu schwierig sind. In den Scheiben ist wenig vom Hof zu sehen, nur mein Spiegelbild, wacher als ich selbst es bin, mir fremd, so fremd, als hätte dieses Gegenüber schon alles gelöst, alle Fragen beantwortet, die sich mir stellen, alle Wege schon klug beschritten, und warte jetzt auf mich, daß ich sie auch gehe. In den Scheiben sehen die Wände durchsichtig aus. Trotzdem scheint das gespiegelte Zimmer kleiner. Aber gemütlicher, überhaupt mehr wie ein Zimmer, wie etwas Wohlfühlbareres als das echte.
Als gebe es da draußen, in einem Raum, der nicht existiert, ein echteres Leben mit einem echteren Ich, das ein wahreres Leben führt als ich selbst.
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Talakallea Thymon - am: 8. Okt, 09:09 - in: Werke & Tage