Werke & Tage
Vor einigen Wochen von der Vielfarbigen geträumt. Eine nächtliche Fußgängerzone, Kleinstadt, drei Gassen kreuzen sich unter dem Streuschein unsichtbarer Laternen, vielleicht ist es auch der Mond, der den stillen, von schweigenddunklen Häusern oder Läden begrenzten Raum mit Nebellicht füllt. Wir hatten ein Treffen vereinbart. Stille, kein Mensch unterwegs. Nur sie ist da, wartet schon, sieht mich nicht. Ich nähere mich. Wußte ich schon, wen ich treffen würde, wußte ich es von Anfang an? Ich glaube ja. Sie steht abgewandt. Es ist Th. Ich weiß es, ich muß es nicht sehen. Sie bemerkt mich, dreht sich um. Erkennt mich.
Das entscheidende Bild: Th.s in Fassungslosigkeit aufgerissene Augen. Ihr Erschrecken, daß ich es bin.
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Talakallea Thymon - am: 24. Sep, 09:43 - in: Werke & Tage
Der Zauber hat lange schon zu wirken begonnen, wenn man ihn endlich merkt. Und wenn man zu ahnen beginnt, wie mächtig der Bann ist, hat er seine Macht voll entfaltet. Diese Weblog-Geschichte ist schon seit einiger Zeit dabei, selbständig zu arbeiten, eigene Kräfte zu entwickeln und die Lenkung zu übernehmen. Wohin geht es? Drei Monate schreibe ich jetzt hier, und schon ist das alles gar nicht mehr wegzudenken. Verwirrend. Es gibt für so etwas kein Vorbild, nichts durch irgendeine Ähnlichkeit Vergleichbares, das auf die Art dieser Beziehungen, dieses Austauschs und Abtastens verwiese. Etwas wirklich Neues scheint da zu entstehen, oder nein, ist schon entstanden, ist schon da und wirkt mit Macht, noch ehe wir es einordnen oder irgend etwas darin voraussehen könnten. Es ist eine völlig neue, sehr ungewohnte, manchmal waghalsige Art, sich zur Welt zu öffnen – und gleichzeitig unverwundbar verschlossen zu bleiben. Vielleicht verstehen wir oft selbst nicht, wie tollkühn das alles ist, weil wir immer im Nebel tappen, und wissen, daß die anderen auch nichts sehen können. Wer hätte unter diesen Bedingungen noch Scheu, sich der Kleider zu entledigen und nackt zu tanzen, und dabei den anderen lautstark zuzurufen, was man gerade tut? Nur die heimliche Angst bleibt und prickelt, es könnte einmal alles auffliegen und der Nebel zerreißen und uns, wie wir gerade nackt tanzen, in hellem Sonnenlicht bloßstellen. Und diese Angst und dieses Prickeln schleichen sich in unsere Träume. (Und wollen wir es nicht manchmal?)
Wir werden Wege finden, dieses Merkwürdige zu prägen, es zu leben, uns darin widerzuspiegeln und wiederzufinden. Dies ist kein Gespräch in irgendeinem schon bekannten Sinn. Dies ist kein Kundgeben des Eigenen, wie wir es aus irgendeiner früheren Welt kennen könnten. Und wenn wir uns voneinander angezogen fühlen, und die andere Stimmen auf einmal ganz nah klingt im Nebel, dann sind diese Nähen keine Freundschaften in irgendeinem ihrer bisher erlebten und mit Namen versehenen Sinne und Weisen. Es ist eine ganz neue, zum ersten Mal geführte und zu führende und auszugestaltende, noch zu formende, noch auszuprägende Form der Beziehung. Aber wie leicht kann man sich, können wir einander und uns selbst täuschen – weil wir ausgerüstet mit alten, in einer anderen Welt erprobten, in einer anderen Welt entwickelten Vorstellungen und Begriffen in diese neuen Beziehungen purzeln.
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Talakallea Thymon - am: 24. Sep, 09:42 - in: Werke & Tage
In einer Anthologie, einem Schulbuch meiner Mutter mit dem Titel „Deutsche Gedichte“, bin ich ihm zum ersten Mal begegnet, als einem, der es verstand, Natur in mir damals völlig neue, wundersame und zaghaft berührende Bilder zu fassen. Ich lernte ihn als einen Meister des Bildes kennen, der mit ein paar Strichen die Stimmung einer Nacht, die Süße eines Frühjahrs, die Leichtigkeit eines Sommernachmittages heraufzubeschwören, festzuhalten, bei ihrem eigentlichen Namen zu nennen wußte. Ich verstand ihn und seinen Blick auf die Welt, so wie ich auch plötzlich ein Bachgemurmel in der Dunkelheit einer Sommernacht auf eine ganz neue Art begriff. Lehrte er mich sehen? Nein, er zeigte mir, was in meinem Blick und meinem Horchen als Verästelung von Wahrnehmungsmöglichkeiten schon eingebettet lag. Er zeigte mir das Innere des Blicks, des eigenen, dessen Vielfalten ich gleichwohl erst viele Jahre später begriff.
Dazwischen verlor ich ihn aus den Augen, ja mich störte seine religiöse Ader, sein Priestertum, seine schwäbische Gemütlichkeit. Daß es auch ungemütlich sein kann mit ihm – auch das lernte ich erst später. Versäumt habe ich es, mich mit ihm näher zu beschäftigen. Von seinen vielen Dichtungen kenne ich nur die allfällig-bekannten. Der heutige Tag soll mir Anlaß werden, meine Neugier auf diesen Dichter, sein Werk, sein Leben von neuem anzufachen. Wer weiß, was er mich noch sehen lehren mag.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 200sten Mal.
Um Mitternacht
Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand;
ihr Auge sieht die goldne Waage nun
der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.
Das uralt alte Schlummerlied -
sie achtet's nicht, sie ist es müd;
ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
der flücht'gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
es singen die Wasser im Schlafe noch fort
vom Tage,
vom heute gewesenen Tage.
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Talakallea Thymon - am: 8. Sep, 10:30 - in: Werke & Tage
Lange habe ich geglaubt, er vermöchte mir nichts mehr zu geben. Keinen Trost, keine Verblüffung, kein Entzücken, kein Schauern. Vor Jahren war es, als ich begann, ihn immer seltener zu hören. Ich verlor ihn, nicht nur aus dem Ohr, sondern auch aus dem Blick, aus den Gedanken, aus der Nähe, die ich bei ihm immer empfunden hatte. Immer seltener ging er neben mir, oder war mir Gefährte einsamer Abende nahe der Verzweiflung, die ich oft mit seiner Musik unter geöffnetem Fenster verbracht hatte, das Zimmer dunkel bis auf die Anzeige des CD-Spielers, die die Beleuchtung im Raum von Sekunde zu Sekunde änderte. Er verstummte langsam, jahrelang, bis seine Musik fast ganz schwieg. Ich merkte es nicht sogleich. Eigentlich erst Jahre später. Gelesen hatte ich viel über ihn. Jetzt suchte ich nicht mehr nach Büchern über ihn. Zwar war sein Antlitz oft zu sehen, aber es zog mich nicht mehr an. Ich sah Ausgaben seiner Werke, aber nichts reizte zum Kauf. Gehört hatte ich ohnehin schon alles.
Jetzt kam mir vielleicht noch manchmal eine Phrase, ein Akkord, eine seiner herrlichen Ostinato-Bläserfiguren in den Sinn, sein dämonenhaftes Blech, seine kreischenden Violinschreie, eine seiner verrückten Modulationen („mein C-Dur muß klingen, als sei es vom Himmel gefallen“); aber ich fühlte die Wärme nicht mehr, die einst mich beim Gedanken und Erinnern an seine Kunst durchströmt hatte. Vielleicht hatte sie nur zu bestimmten Jahren meines Lebens Zugang, nur in einem bestimmten Alter ihre Wirkung und die Gabe, mich zu erschüttern, und mich mir selbst, leicht verschoben, wiederzuschenken. Selbst noch vor einigen Monaten, als es eine Radiosendung gab über ihn und die Rekonstruktion seines letzten, unvollendet gebliebenen Werks: Da war wohl kurze Verzaubrung, gefolgt vom Gang in die Musikbücherei und kurzer Beschäftigung mit diesem Werk. Doch blieb der erneute Zauber, der anhaltende, von früher bekannte, aus.
Gestern aber glaube ich, habe ich ihn wiedergefunden. Es war sein „Lied von der Erde“, das mir geradeso wie früher direkt ins Herz ging, und doch so geheim, daß die Wirkung sich langsam langsam entfaltet und für dieses Entfalten Stunden, Tage braucht. Es ist kein Rausch; eher so etwas wie Liebe. Die tiefe Freude darüber, daß es diese wunderschöne Musik gibt und sie bei mir ist. Sie war immer etwas Vertrauliches, von dem ich glauben konnte, daß sie mir persönlich etwas sagen wollte, daß sie mich anging. Daher habe ich mich dem Schöpfer dieser Musik, seiner Zerrissenheit, seinem Leiden, seinem Schuldigsein, seiner wahnsinnigen Lebensfreude, seiner ebenso wahnsinnigen Lebensverzweiflung, seiner tiefen Liebe zu einer Frau, seinem Ringen um Ausdruck und Bewältigung, schließlich seiner Erschöpfung, immer nahe gefühlt, immer verbunden, ja, immer ähnlich und verwandt gefühlt: Gustav Mahler.
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Talakallea Thymon - am: 1. Sep, 10:41 - in: Werke & Tage
Schon alleine zu bemerken, daß man vermißt wird, tut gut ... wenn aber zwei sich über mich und mein Wohlergehen austauschen, dann bin ich gewissermaßen sprachlos gerührt.
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Talakallea Thymon - am: 31. Aug, 10:44 - in: Werke & Tage
Einsam muß er, der neue Mensch, sich unter seinen Mitmenschen vorgekommen sein, einsam und in kühlen Hauch geschlungen, einsam wie auf dem Gipfel des Mont Ventoux, den er als erster erstieg: Alleine in hitzelflirrenden Steinhängen. Allein mit der neuen Sehnsucht in seiner Brust, die er mit keinem Menschen seiner Zeit zu teilen vermocht hatte und die vielleicht in jener Wanderung ihren bildhaftesten Ausdruck findet. Wir können kaum ermessen, was es bedeutet haben mußte, in jener Zeit so anders zu fühlen und damit so einzig und getrennt von allem zu sein. Als erster nach Jahrhunderten wagte er es, seine Liebe zum Mittelpunkt und Maßstab der Welt zu erklären. Seine Liebe ist alles. Die Welt wird ihm wirklich durch seine Liebe, und deutbar durch das Eigene, durch die Sehnsucht seines vereinzelten Selbst. Daß sich auch die Welt unter diesem Blick verwandeln muß, daß sie diesem liebenden Auge gänzlich neu erscheinen muß, ja, daß sich dieses Auge plötzlich selbst beobachtet und verstehen will, ist nur zu begreiflich. Damals war es unerhört. Und wir staunen über diesen plötzlichen Funken in seiner Brust, den neuen Lebensmut, der den Gestank der Gassen, das Elend von Pest und Aussatz, die Erniedrigung von Schmerz und Schmutz zu überwinden gewillt ist, und das klare Auge, das auf einmal emporblicken will zu den Hängen, die damals vielleicht noch pinienbestanden, duftend und vom Lärm der Zikaden erfüllt waren, das sich hinwendet zur harten, steinernen, sonnendurchglühten Welt und sie zum ersten Mal als etwas empfindet, das verstanden und durchwandert werden will, ohne Gleichnis, ohne Jammertal, ohne Prüfstein zu sein. Und wir bewundern das liebende Herz, das sagte: Laß uns dort hinaufgehen. Laß uns unter Pinien wandern, in Mühsal steigen, sehen und sehend dichten.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 700sten Mal.
S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento?
Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale?
Se bona, onde l’effecto aspro mortale?
Se ria, onde sí dolce ogni tormento?
S’a mia voglia ardo, onde ‘l pianto e lamento?
S’a mal mio grado, il lamentar che vale?
O viva morte, o dilectoso male,
come puoi tanto in me, s’io no ‘l consento?
Et s’io ‘l consento, a gran torto mi doglio.
Fra sí contrari vènti in frale barca
mi trovo in alto mar senza governo,
sí lieve di saver, d’error sí carca
ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio,
et tremo a mezza state, ardendo il verno.
Nachdichtung von Martin Opitz
ISt Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet?
Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?
Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust?
Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd’ auß jhr empfindet?
Lieb’ ich ohn allen Zwang / wie kan ich schmertzen tragen?
Muß ich es thun / was hilfft’s daß ich solch Trawren führ’?
Heb’ ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?
Thue ich es aber gern’/ vmb was hab’ ich zu klagen?
Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden
Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:
Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer
Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.
Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß:
Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.
Nachdichtung von Friedrich Wilhelm Riemer (1826)
Ist’s Liebe nicht, was dann ist dieses Meinen?
Ist’s Liebe nicht, wie nenn’ ich sie zumal?
Nenn’ ich sie gut, wie schafft sie herbe Qual?
Wenn böse, wie versüßt sie alle Peinen?
Lieb’ ich freywillig, woher Klag’ und Weinen?
Wenn wider Willen, frommt dann Thränenzahl?
Lebend’ger Tod! erquickungsreiche Qual!
Wie hast Du Macht an mir, die ich verneine?
Und hast Du sie, leid’ ich sie mir zum Schaden:
In schwankem Kahn, im Widerspiel der Winde,
Auf offnem Meere treib’ ich ohne Steuer;
An Wissen leicht, an Irrthum schwer beladen,
Bin ich nicht so wie ich mich gern empfinde,
Und fühl’ in Hitze Frost, in Kälte Feuer.
Nachdichtung von Karl Kekule (1844):
Wenn Liebe nicht, was ist es, was ich fühle?
Und ist es Liebe, was, um Gott, ist diese?
Wenn gut, wie kommt’s, daß tödtlich hier sie wühle?
Wenn bös, daß Wonne jedem Schmerz entsprieße?
Wenn ich mit Willen glüh’, was heisch’ ich Kühle?
Wenn gegen, hilft mir’s, daß die Thräne fließe?
Lebend’ger Tod, und Luft bei Flammenschwüle,
Wir zwingt ihr mich, wenn ich’s nicht selbst erkiese?
Erkies’ ich’s denn; – so fleuch, rechtlose Klage! -
So treib ich schwankend hin auf schwachem Kahne,
Und steuerlos, vom hohen Meer umsprühet;
So leicht an Wissen und so schwer an Wahne,
Daß selber ich nicht weiß, wonach ich jage;
Im Sommer eisig, Winters heiß durchglühet
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Talakallea Thymon - am: 20. Jul, 11:52 - in: Werke & Tage
Gestern in der Mensa einer großen deutschen Universität. Ich lege die Jacke ab, ziehe den Stuhl zurück, will mich setzen, da höre ich vom Tischende her eine durchdringende Stimme:
„.… und wißt ihr, was ich besonders gern mache? Wenn ich so’n Fahrradfahrer vor der roten Ampel noch überhole: Gaaaanz rechts ranfahren, daß der dann nicht mehr rechts an mir vorbei bis vor die Haltelinie fahren kann. Und wie die sich dann immer aaaaaauuufregen! Köstlich, sag ich euch, zum Schießen.“
Es ist beschämend, aber es gibt Momente im Leben, wo einem Spucke und Worte gleichermaßen wegbleiben. Man möchte weit ausholen und einfach nur reinschlagen. Keine Diskussion, kein demokratisches Abwägen, keine Toleranz und Freiheit-des-Andersdenkenden, nein. Einfach nur eine reinhauen.
Aber es ging noch weiter:
„Und was mich besonders nervt, das sind die Ommas und Oppas, wenn die Fahrrad fahren. Können nicht einmal mehr laufen, aber dann Fahrrad fahren.“
Ich wünschte mir eine Tonne mit Pech und einen Sack mit Federn. Riskierte einen Blick. 20jähriges Mädel. Fährt fort, mit stolzgeschwellter Brust:
„Also ich bin, seit ich 15 bin, nicht mehr Fahrrad gefahren. Da hatte ich meinen ersten Freund mit Auto.“
Wie praktisch, denke ich. Starre auf meinen Teller. Zähle langsam bis zwanzig. Versuche, an etwas Schönes zu denken, einen Rosenstrauch, eine Nachtigall, ein Morgen am Meer. Aber mir fällt leider nur ein, was man mit Pech und Federn anstellen kann, und wie die Dame am Tischende unter Johlen und Pfeifen sämtlicher anwesender Radfahrer und Mittsechziger aus der Mensa getrieben wird. Es ist in hohem Maße beschämend. Aber so war es nun einmal.
Was wäre hier zu tun gewesen? Gesetzt den Fall, man gehört nicht zu den begnadeten Scharfzungen, denen in solchen Augenblicken etwas wunderbar Bloßstellendes einfällt? Angenommen man gehört zu den ernsthaften, zerquälten, verbissenen Argumentkackern? Was bliebe? Die Person in ein sokratisch-ironisches Gespräch verwickeln und langsam aber sicher demontieren? Aber woher die Gelassenheit nehmen, wenn einem die Hände zittern vor Zorn?
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Talakallea Thymon - am: 14. Jul, 12:04 - in: Werke & Tage
Es gibt eine Art von katalytischer Musik, die mich innerhalb kürzester Zeit in Tränen ausbrechen läßt. Nach drei Takten beginnt die Kopfhaut zu prickeln, nach noch einmal drei Takten zieht sich der Hals merkwürdig zusammen, überall rieselt es, die Augen beginnen zu brennen. Und dann der Choreinsatz, die Synkope, die Donnerschläge der Pauken, das schon ersehnte Streichertremolo, die sonnenhaft aufleuchtende Wendung nach Dur: und es packt mich, es schüttelt mich durch und durch. Ich weine. Ausgiebig. Herzhaft. Gelöst.
Era el crepúsculo de la iguana … Es ist so schön, als wäre ein Engel vorbeigegangen und hätte mich, unwürdig-niederes Dasein, berühren wollen. Ich weiß nicht warum, eigentlich klingt diese Musik wie von der Sakro-Pop-Gruppe der katholischen Kirchengemeinde. Warum hat sie auf mich diese Wirkung, diese unglaubliche Kraft? Gestern wieder. Lang aufgestaute Sturzbäche der Erschöpfung, der Anspannung, des Vergeblichseins. Yo no voy a morirme/salgo ahora/en este día lleno de vulcanes/hacia la multitud/hacia la vida
Danach ist es gut.
Ganz bestimmte Musik muß es sein, und meistens klappt es zuverlässig: Brahms, Ein deutsches Requiem, Theodorakis, Canto General, Verdi, Requiem, „Dies Irae“ (ja, ich weiß. Trotzdem.), Mozart, Klavierkonzert A-Dur, 2. Satz, Brahms, Klavierkonzert Nr. 1, d-Moll, 2. Satz. Und anderes, von dem ich es vielleicht noch nicht weiß. Ist es beschämend, weil ich so eine Erlösung manchmal brauche und mir nicht anders zu helfen weiß, als es durch ein paar billige Töne herbeizuführen?
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Talakallea Thymon - am: 14. Jul, 12:02 - in: Werke & Tage
Es regnet. Dunkle Flecken wachsen, unmerklich, wie die Reue über eine verlorene Liebe, auf dem Sonnenweiß der gegenüberliegenden Hauswand. Geister, graubeflaggt und faserig, jagen sich am Himmel. Pfützen im Hof, zitternd und brünstig wachsend unter den lasziven Tropfen. Man bleibt draußen, fremd im eigenen Hause, die Kerzenflamme will spotten, daß man immer noch hier ist. Musik mag einem in den Sinn kommen, aber da war ja einmal eine falsche Melancholie, eine Traurigkeit, die man sich in dieser Süße nicht mehr leisten kann, nein, nicht mehr leisten kann.
Wer wohl gegenüber wohnt? Das Fenster ist immer dunkel. Durch das geeiste Glas kann man Flaschen erkennen, Wein, vielleicht auch nur Haushaltsartikel, Scheuermilch, Allzweckreiniger, biologisch abbaubar, was weiß ich, Dinge jedenfalls, die einen zur Verzweiflung bringen könnten, zu einer Verzweiflung an der Welt und ihrer irrsinnigen Logik und Vernünftigheit.
Wer da wohl wohnt?
Als wäre schon das zuviel, ersterben die Tropfen, als habe es ein Regisseur so angeordnet. Die Welt ist Modell, keine Gerüche, nicht die Spur eines tröstlichen, modrigen, schimmeligen Sterbens, die einem den eigenen Tod erträglich erscheinen ließe – die Kinder johlen, todesunberührt, in unverbleichbaren grellen lächerlichen Lustigfarben über die saubere, gänzlich unfruchtbare und duftlose Straße –
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Talakallea Thymon - am: 1. Jul, 08:56 - in: Werke & Tage
… daß ich einen Blick getan habe in ein fremdes Inneres; und den Sog eines fremden Lebenliebenleidens an mir gespürt habe, als wäre es mein eigenes … so nah. Und doch: je tiefer ich eindringe, desto fremder, ja entrückter wird sie mir. Wird mir dies Lieben und Leiden; so fremd, daß ich glauben muß, selbst nicht so tief und hingabevoll leiden-und-lieben zu können. Es ist nicht so, daß ich mich erkenne, denn wie könnte ich? Es ist, wie wenn man etwas schaut, das heilig ist und deshalb verborgen, und das zu schauen nur dem besonderen Augenblick vorbehalten ist; und das zu schauen wohl nicht verboten, nicht versagt ist, aber auch nicht folgenlos bleiben kann. Die Welt wird nicht mehr so sein wie vorher. Wie ein Blinder, der plötzlich sieht und am Sehen schuldigheilig werden kann. Und so bin ich berührt, ja durchwallt und durchwühlt. Die Stimme dieser Frau spricht in mir fort. Nein, sie spricht nicht, aber ich weiß immer um sie. Sie hat etwas in mich gelegt, und indem sie dies tat, etwas bewegt und umgestoßen. So daß etwas neu ist in mir, … oder neuentdeckt?
Das Gefühl ist weiterhin und nach einem Wochenende lang Glühen und Denken und Schwelgen und Rätseln so fremd, daß die Worte nicht heranreichen; was ich auch denke, es kreist nur darum herum, ohne sein Wesen zu treffen. Alle Vergleiche gehen fehl. Es ist als ob ich verliebt wäre in das bunte Herz … nein. Es ist wie etwas Verbotenes geschaut zu haben … nein. Es ist die Fassungslosigkeit vor so viel Tiefe und so viel schön gesungenem Wort … nein.
Es ist von allem etwas, und nichts ganz.
Manchmal auch stelle ich mir vor, daß diese Schilderungen, daß die Geschichte hinter den wildtraurigen Gesängen gar nicht wahr ist. Vielleicht handelt es sich nur um eine Erfindung, wenngleich eine wunderbare? Wäre das eine Enttäuschung?
Dann wieder will ich diesen Gedanken gar nicht denken. Es soll echt sein. Es soll diese Geschichte, diese Gefühle, diese Trauerwildheit geben.
Als Beweis für die Möglichkeit einer solchen Geschichte?
Ja, ich fühle mich auch ausgeschlossen; nicht von dieser Geschichte, aber von den Geschichten überhaupt, die mir mit einemmal unwählbar vorkommen. Unbeginnbar. Unwollbar. Sie geschehen, aber nicht, weil jemand will, und sie geschehen anderen, nicht mir. Die Stimmen eines Festes am anderen Ufer, dahinfließender Feuerschein im Spiegel des Flusses, Gesang und Gitarrenklänge, die herüberzittern und auf den Wassern treiben, und dies warme, menschenbeherzte Ufer mit dem Gesang und den Stimmen und der Liebe, die dort vielleicht zwischen zwei Menschen beginnt, dies Ufer ist unerreichbar weit. Und das Wasser zu meinen Füßen kalt, und das Schilfgras totendunkel. Hinter mir ist nichts und nicht einmal Schlaf und Traum, und hellwach muß ich hinüberblicken und hinüberlauschen, und starr und aller Brücken entbehrend. Die Frage ist, ob wir unsere eigene Geschichte wählen. Vielleicht nicht. Aber vielleicht ermöglichen? War das nicht schon immer die Frage und das quälende Rätsel? Nichts hat sich geändert. Vielleicht schaue ich einfach nicht mehr hinüber. Vielleicht ziehe ich die Vorhänge zu und drücke mir ein Kopfkissen auf die Ohren und warte, bis das Lichtchen zwischen den Föhrenstämmen verglommen ist und die Stimmen unhörbar weit sind. Manchmal ist der Wind in den Wipfeln ein Trost.
Berührt. So wie der langsam verhallende Klang von Haut auf meiner Haut. So fein wie das Spiegelbild, das ein Blick auf meine Augen legte. Berührt von Worten, die ja gar nicht an mich gerichtet waren, wandele ich, reise ich, bin ich unter Menschengelächter und Menschenwärme. Ich höre und sehe es wohl; doch in mir erklingt eine andere Stimme, und hinter meiner Stirn schaut mich eine an, die ich nicht kenne. Sind wir nicht stundenlang in einem Café gesessen und haben geredet und geredet? Haben sich unsere Hände nicht berührt, miteinander einverstanden, so daß meine Haut noch von deinen Fingern singt?
Nein, du weißt nichts von mir, und hast doch dein Herz mir geöffnet. Berührt bin ich von dir. Ich bin gezeichnet und heilig befleckt. Ich habe dich gesehen, und es ist, als wärest du nackt gewesen, doch verhüllt dein Antlitz, verschlossen dein Auge. Du kennst mich nicht, und bist mir doch gefolgt, überallhin. Tagelang gab es nichts Schöneres, als über dich und dein verhülltes Antlitz und deinen verschlossenen Mund nachzudenken. Verschwendet waren die Stunden ans Menschengelächter, an Speise und Sonnengang und Buch, ja, an die Stimme der Freundin. Lieber wollte ich es dir nachtun, in ein dampfendes Bad gleiten um dort zu-lesen-und-nicht-zu-lesen.
von:
Talakallea Thymon - am: 30. Jun, 11:41 - in: Werke & Tage