Klausurvorbereitung (2)

Irgendwo bei km 18 oder 20 zwischen Witterschlick und Röttgen überholen mich zwei fahrradfahrer, und noch in ihrem herannahen höre ich mich angesprochen, Sie haben …
Ich füchte schon, gleich vernehmen zu müssen, was für ein riesen ekelhaftes getier mir am rücken klebt, aber nein:
… Sie haben aber einen schönen laufschritt! ruft eine sportliche dame mit pausbackigem gesicht mir auf augenhöhe zu.
Danke! rufe ich fröhlich und etwas verdaddert, und ihr begleiter strahlt mich an und fügt hinzu: kompliment! Dann sind sie um die nächste kurve und davon.
Auch wenn ich davon nicht schneller wurde und der glykogeneinbruch dann doch kam – die nächsten vier km trug ich hermessche flügelschuhe. Es ist schon merkwürdig, wie wenig die eigenwarnehmung manchmal der wahrnehmung der anderen kongruent ist. ich, der ich mich immer für linkisch halte, für einen unmotorischen geek, soll also jetzt einen schönen laufstil haben. Ha, wer weiß? Am ende wäre ich vielleicht sogar ein begnadeter tänzer.
da sitzt man nun also in seinem maulwurfsbau, ein gefülltes glas neben sich auf dem tisch, fenster auf kipp, schnellstraßen von ferne, etwas feuchtkühle waldluft, von der man sich fragt, wie sie es hierher geschafft hat, so sitzt man im licht, landkarten, wege, kilometerzähler, und ab und zu nimmt man einen schluck, und plötzlich ist abend, da ist es, als hätte man auf diesen augenblick gewartet, auf so einen augenblick im frühsommer, wenn die luft umschläft von lau zu kühl und die letzte amsel verstummt ist, während bestimmte blüten sich jetzt den faltern öffnen und die gärten zu duften anfangen, so ein abend, so ein augenblick, wo man sich plötzlich der brennenden füße bewußt wird, der salzränder unter den achseln, dem glühen im gesicht, dem getrockneten schweiß im hemd, genau so wie früher, als man barfuß lief und das laken im kinderbett fußseitig schnell grau wurde, aber jetzt, wo er da ist, dieser moment, weinglas und fenster auf kipp und sommer und barfuß und das alles, da weiß man auf einmal nicht mehr, warum, und: ich sach ma tschöh, sacht der tach und ist weg, bevor’s bei mir ankommt. und das glas, tja, das glas ist noch nicht einmal zur hälfte geleert.
Gerade gelesen (ich übersetze aus dem Griechischen):
Er spürte, daß er diese verdichtete Wirklichkeit nicht ertrug, dieses unersättliche Präsens, ohne Widerhall. Er ertrug nicht die Undurchsichtigkeit einer Gegenwart, die von der Vergangenheit des Mythos abgeschnitten war. (M. Lambadharídhou Póthou, Ο Αγγελος της Στάχτης, 302)
Genauso hat es sich angefühlt, als ich durch einen verzauberten Hain geschritten war, einmal und Jahre danach noch einmal, so habe ich es empfunden, später, nachdem ich das alles lange verlassen hatte. Plötzlich gab es nur noch die Gegenwart: dicht, ohne Tiefe, undurchdringlich und unerträglich ausschließlich vorhanden.
du fragst, wie es mir geht -- ganz gut, glaube ich. ich bin immer vorsichtig mit beurteilungen meines eigenen zustandes, aber ich kann wohl sagen, daß es mir gut geht. die vorlesungszeit geht diese woche zuende, ein sehr schwieriges semester liegt hinter mir, ich habe die klausur gut bestanden und obendrein kann ich im frühjahr die magisterprüfung ablegen.
ich habe das gefühl, plötzlich wieder kraft zu haben, und die luft ist plötzlich leicht und herrlich zu atmen. nichts drückt mehr auf der brust, wie es so viele wochen -- und das bemerke ich jetzt erst so richtig -- mir wie stein, stahl und sturm den atem nahm. ich komme mit weniger schlaf aus, das laufen macht wieder freude, und ich mache mich langsam daran, ordnung in mein leben zu bringen. mein zimmer ist der anfang. aufräumen, ausmisten, umstellen, neu ordnen, licht in winkel fallen lassen, die jahre in staubigem dunkel lagen und zähen, hemmenden schleim angesammelt haben. ich wühle drin herum und bewege gegenstände, die so lange unbeweglich waren, daß sie eine todesstarrheit um sich verbreiten. ich puste, und der staub von jahren wirbelt davon und fängt plötzlich munteres licht ein. die fenster stehen sperrangelweit auf. alles soll hell und freundlich, sauber und warm sein, und dann wird es vielleicht auch wieder hell, sauber und freundlich in mir.
die zeit der dunkelläufe geht zu ende. die vögel kündigen hellere frühstunden an, schon liegen dämmerungen voll rotkehlcheneinsamkeiten über schimmerndem stahl. am morgen, zwischen trübmond im westen und oxydblau im osten der erste der zaunkönige, und später, leuchtend aus dem dunklen gewirr von brombeeren, ahorn und kiefer, die unsichtbare amsel.
die beine haben das laufen nicht verlernt, doch sind sie schwer, winterschwer, träge von ruhetagen, fiebertagen. aber die lust ist wieder da, zum erstenmal nach wochen, die lust am entzücken, am atmen, am fluß der bewegung, die lust an erschöpftsein.
jeder morgen ein stückchen heller, eine vogelstimme mehr. bald kann die stirnlampe zu hause bleiben.