Schenke mir immer den Anfang, das Tor, den Morgen, die Knospe.
Denken ist alles, und nichts wäre der wirkliche Kuß.
Schenke mir Aufbruch, nicht Ziel, die Frucht nicht, die Blüte mir schenke.
Schenk mir, was lebbar wär. Denkbar solls so immer sein.
Schönheit ist nur als ein Mögliches rein, als erste Entzündung,
Weg, der im Weg sich erschöpft, Hoffnung, die selbst sich genügt.
Dieses darfst du mir schenken, das Erste, das Zweite, das Nächste –
Letztes nur schenke mir nicht. Ende hieß solcher Beginn.
von:
Talakallea Thymon - am: 3. Sep, 10:13 - in: An habent et somnia pondus
von:
Talakallea Thymon - am: 1. Sep, 10:45 - in: O tempora, o mores!
nach den stürmen der letzten wochen endlich wieder so ein licht, das einen an den haaren packt, einem das kreuz geradestreckt und den kopf in den nacken zieht. der himmel ist so groß wie er sonst war und bietet wieder platz für vögel, baumkronen und weidende schwäne.
in einen tropfen gekrümmt findet sich alles, bis in die allerersten tage hinab. vielleicht wären wir glücklich gewesen in jenem raum, auf den alles deutet, ohne ihn benennen zu können. eine farbe gaukelt es vor, rindenstücke, mulch, warmgeäderter granit. man dreht sich um, aber es waren nur die eigenen schritte. vielleicht hätte wir gemeinsam erste um erste stunden aus der zeit gehoben, zahlreich und mächtig genug, uns mit geschichten zu nähren und in die zukunft zu tragen; hätten uns angesehen, und erstaunt übereinander gelacht und weiter fleißig neue zukünfte füreinander erfunden. oder auch nicht: mag sein, wir hätten aus der ersten stunde solange gezehrt, bis alle unsere zeit zerschlissen, dünn und endlich so durchsichtig geworden wäre, daß wir uns selbst nicht mehr darunter erkannt hätten. vielleicht wäre alles nur noch ein nachhall gewesen und unser auseinandergehen die einzige form, das schöne zu bewahren für immer. ich weiß es nicht. niemand weiß es.
der tropfen schmilzt in der morgensonne. der himmel packt mich am kragen. über den gräserdunst schweben die pferde. alles ist nachhall.
den kopf aus dem himmelsschauer nehmen, mit dem daumen die kastanien in der pfütze umrühren, eine unreife nuß zerdrücken. blinzeln, und wieder über die unerbittlichkeit der zukunft staunen.
von:
Talakallea Thymon - am: 29. Aug, 12:52 - in: Wem nie durch Liebe Leid geschah
Frauen wandelten oft an den Rändern trauriger Gärten,
wo jede Hüfte aus Stein schloß einen Pakt mit der Zeit.
Zwischen den Fingern ein Licht, so still, als spielte ein Wasser,
um ihre moosige Stirn, bis sie zu Laubwerk zerfiel.
von:
Talakallea Thymon - am: 29. Aug, 12:35 - in: An habent et somnia pondus
Da bin ich also. Vor dem Fenster ein neuer Hof, und die Pappeln dahinter, riesenhaft schwarz und ruhig, geben noch nichts preis, sind noch, wie sie sind, bei sich, unverwandelt. Das merkwürdige ist: Bald werden es nicht mehr einfach nur Pappeln sein, bald werden es die Pappeln sein, täglich geschaute Bäume, in die man hineinträumt (ohne sie zu sehen), von denen man sich seufzend abwendet, die man in einem heiteren Moment anstaunt, wenn der Wind im Sommer (dem nächsten), ihre Blätter silbrig wird umschlagen lassen, mit jenem Rauschen, das nur alleinstehende Pappeln zustande bringen, und das immer ein wenig nach Regen und Meer klingt; oder Bäume, die Bäume, in deren nebelgelben letzten Blättern man die Kindheitsstimme des Herbstes für Augenblicke wiederfinden wird.
Schon jetzt ist ihr schwarzes Rauschen durchs geschlossene Fenster zu hören.
Wie zur Anprobe nun also die erste Nacht. Von den Balkonreihen gegenüber dringt ein Band Fensterlicht, das die Büsche unten in dunklen Rauch aufgehen läßt. Auf den Dächern der geparkten Autos schimmert es leise. Vollmond. Es ist keineswegs ruhig, aber die Geräusche sind andere, sind als Wohngeräusch fremd, aber sonst vertraut, Autoverkehr freitagabends, das Anrauschen und Wiederverklingen von Reifen und Motor. Fernes Hintergrundsgebrumm. Anonyme Geräusche einer Stadt, die lebendig ist, keine Störung, kein Lärm, nur ein sanftes Lärmen. Es erinnert mich an Erstnächte und Erstmorgen in einem Hotel inmitten einer fremden Stadt, in einem fernen Land. So klingt es in den Hauptstädten griechischer Inseln, so braust es nachts in Rom, Athen, Barcelona und anderswo, so braust es nach tagelanger Zugfahrt, ganz gleich, wo man ankommt. Das ist schön. Ankommen ist schrecklich. Angekommensein ist schön.
Es ist merkwürdig, sich vorzustellen, daß dies alles einmal vertraut sein wird, vom Schlüsselgeräusch über den Geruch bis hinein in die feinsten Druck- und Widerständswahrnehmungen von Tür, Fenster, Wasserhahn, vertraut bis zum Nicht-mehr-Wahrnehmen. Wie wird es sein, heimzukommen (ja, hier ist jetzt zuhause) zu Kaffee und Erholung nach dem Arbeitstag und alles so vorzufinden, wie es immer war – als wäre es immer schon so gewesen?
von:
Talakallea Thymon - am: 22. Aug, 11:14 - in: orte. wege
Manche Schmerzen sind dem Nomaden fremd. Er vermeidet es ja, allzu viele Feuer übereinander in den Grund zu brennen, den Bast vom Baum zu wetzen, Fußspuren zu hinterlassen im feuchten Mergel. Und so wie er nicht auf den Ort abfärbt, kerbt sich der Ort nicht in ihn.
Diese Winkel aber, die unbewegten Buchrücken mit den Staubhäubchen, die Tapeten, die Tischkanten, der exakte Fall der Schatten am Mittag. Die Wände, um wie vieles sind sie schon herumgewachsen, um Zapfen und Schneckengehäuse, um Muscheln und Gynoecea, um Kristallsplitter und Wachsstalagmiten, um etliche An- und spätere Abwesenheiten, um Federn, Hölzer, Schiffe, und um so manchen Traum.
Vieles haben sie gesehen am Tag, mehr noch vernommen bei Nacht und es für sich behalten, um es mir später, wenn ich wieder allein war und der Mond wieder bei mir, in die Stille hinein zurückzuflüctern. Die Augen dieser Wände, nicht nur gesehen haben sie, nicht nur Bilder empfangen, sondern ihr Sehen ist ein Senden, von Fäden, Tastern, Gespinsten. Viele Geschichten haben sie erlebt, ihr Aufblühen, ihre Dramatik, ihren Verfall, sind um viele Häute, Düfte, Haare und später um deren Verschwinden herumgewachsen, bis nichts mehr blieb als ein Name, den sie immer noch erinnern, ja erneuern:
Zuviel habe ich ihnen zugemutet, indem ich sie zu Zeugen machte, zu Bewahrern und Behütern, zuviel aufgebürdet und ihnen übertragen, was meine Aufgabe gewesen wäre, um frei zu bleiben im Raum meiner Erinnerungen, unabhängig von den Orten, die dieses Erinnern nun gespeichert, gebündelt und reflektiert haben. Ich habe meine Erinnerung entäußert, bis sie mir nicht mehr gehört und ohne den Ort, den ich nun verlassen muß, geschmälert, verblaßt, verworren ist.
Indem man erinnernd ihm diese Dinge überläßt, tappt man als Seßhafter in die Falle des Ortes. Man lädt ihn auf; man übergibt ihm die Erinnerungen; man wirft die inneren Bilder an seine alles verschlingenden Wände, und er, er läßt sich durchdringen und verfärben, bis wir meinen, er gehört uns. Und dann müssen wir fort, jemand vertreibt uns, jemand zieht uns woanders hin, und wir begreifen: nicht der Ort hat uns gehört, sondern wir dem Orte. Wir haben uns ihm überlassen. Der Ort bestätigt uns unsere Existenz, indem er unser Dasein und was uns widerfährt, uns zurückspiegelt. Wir sind, weil es den ort gibt. Wir sind, was der Ort ist.
Diese Schmerzen sind dem Nomaden fremd.
Weil kein Ort ihn, sein leben, seine kostbare Existenz, zurückspiegelt, kann er sich auch nicht auf diese Bekräftigung seines brüchigen Daseins verlassen. Also bekräftigt er sich selbst seine Existenz, oder findet sie vom Himmel, den Sternen, dem Staub, der gestampften Erde seines Weges wiedergespiegelt, die seine Heimat sind; oder er nimmt diese Brüchigkeit mit einer Demut an, mit der der Seßhafte immer seine Schwierigkeit haben muß.
Ich bin kein Nomade. Wohin immer ich gehe, wandere, reise, sind an jedem beliebigen Ort meine Wege, mein Aufenthalt, ja meine ganze Existenz auf einen zweiten Ort bezogen, den ich Heimat nennen will. Nach ihm ist alles ausgerichtet, nach ihm bemißt sich jede Richtung, nämlich in ihrer Eigenschaft, von jenem zweiten Ort zurück- oder weiter von ihm wegzuführen. In der Fremde bin ich ein anderer als der, der ich zu Hause war und wieder sein werde. Ich kann mich zwar fast überall heimisch fühlen, aber nirgends daheim. Zudem bin ich ein zutiefst territoriales Wesen. Ich brauche verläßliche Grenzen, die mich abschirmen, unsichtbar machen und bergen, ein Versteck, wo ich mich unentdeckt, unverletzlich und sicher fühlen kann. Das ist auch der Grund, warum mir die Geräusche, die mich seit so vielen Monaten gequält haben, erst der Mofaheini, dann der Trommler, dann der Kocher, dann das Gequatsche im Hof, warum mir diese Anwesenheiten so sehr haben zusetzen können: Weil sie eine latente Bedrohung waren und in meinen Ohren stets eine unmittelbar bevorstehende Territorialverletzung anzukündigen schienen: Dauerspannung. Ich brauche gewisse Mindestabstände (je nach Kontext sind das andere), um mich sicher zu fühlen; werden diese Abstände von anderen Menschen unterschritten (und sei es auch nur virtuell), fühle ich mich sofort äußerst unwohl. Auch dies ein Grund, warum das Reisen für mich immer eine Tätigkeit (eigentlich ist es ja ein Zustand) von ambivalenter Wertigkeit sein wird, ein Zustand im Spannungsfeld von Abenteuerlust, Neugier und Bewegungsdrang einerseits und der tiefen Verunsicherung des In-die-Welt-geworfen-Seins, der schutzlosen Existenz weitab aller Deckungsmöglichkeiten andererseits.
Natürlich fängt man sofort an, in einen neuen Ort hineinzuwachsen, oder der Ort in einen selbst, eine unmerklich langsame Umgestaltung, des Ortes wie der eigenen Befindlichkeiten und Gleichgewichte, mit der man sich den Ort zur Heimat erhebt. Aber vom ersten ungewohnten Gewicht des neuen Schlüssels bis zu jener Verschmelzung mit einem Umfeld, das man Heimatgefühl nennt, dauert es seine Zeit. Bis es soweit ist, werde ich manchmal, wenn ich zur Morgenstunde wach liege und die Wehmut mich anfällt, den Nomaden beneiden um sein Daheimsein im Heimatlosen, um sein Zelt, den Himmel, die Sterne und den Wüstensand, die, wo immer er schläft, seine Wände sind, seine Heimat, die ganze Welt, seine immergleichen Spiegel.
von:
Talakallea Thymon - am: 19. Aug, 11:37 - in: orte. wege
beim gang durch die grünanlage fiel wieder der wind auf.
durchsetzt mit möwenschreien, die eigentlich sittichschreie sind, kam er heran aus einer rufweiten ferne jenseits der häuserzeilen, ließ pappellaub silberhell umschlagen, rappelte in den zäunen, scheuchte vögel aus dem weißdorn, hieb schluchten in die wolkenberge und brachte von ganz nah das meer mit: so sturmklar und frisch, daß man in ihn hineinrufen, ihm einen abzählreim vorsagen, ein rätsel aufgeben mochte, ihn einen augenblick verhalten in der hohlen hand, daß es wie orgelpfeifen darin brausen würde, ehe man ihn wieder zum blankgefegten himmel entließ.
von:
Talakallea Thymon - am: 13. Aug, 12:33 - in: orte. wege
Zwischen die Säume geblitzt von Weg und Kleidern die Füße:
Sohlen der Frauen, im Takt, schlugen die Stunden ins Licht.
von:
Talakallea Thymon - am: 13. Aug, 09:53 - in: In Nemore
Ich habe nie begriffen, was an geschichten gut sein soll, „wie das leben sie schreibt“. soweit ich weiß, schreibt das leben vor allem banale geschichten, solche, die kein verleger drucken würde. nehmen wir beispielsweise das ende einer der letzten diktaturen europas, das land spielt keine rolle, da gab es eine friedliche umwälzung, der regierungspalast wurde von einer fröhlichen menschenmenge gestürmt, der regierungschef war damit faktisch abgesetzt; niemand griff ein, das militär nicht, die polizei nicht, kein schuß fiel, niemand kam zu schaden, und als die bürger sich stunden später verblüfft die augen rieben, war eine regierung, ein system und eine ära zu ende. so weit so gut. aber jetzt kommt das wahrhaft schöne, das, was dieses ereignis zu einer geschichte macht, oder gemacht hätte, wenn es wahr wäre: es hieß nämlich bereits wenige stunden später, die bewegung der am fuß der treppe wogenden menge die stufen hinauf und ins innere des palastes hinein sei durch ein kleines kind ausgelöst worden, das sich aus der hand seines vaters befreit hatte und, die kühnheit seiner schritte nicht ahnend, die stufen erklommen habe, so daß der vater ihm nachgesprungen sei; und dieser bewegung hätten sich sogleich einige und schließlich viele spontan angeschlossen, bis im schneeballeffekt der palast regelrecht gestürmt worden sei.
eine schöne geschichte, wie gesagt, wenn sie wahr wäre. denn nicht das leben hatte sie geschrieben, sondern irgendein nach geschichten hungernder geist (der sich vielleicht an eine schlange und ein blankgezogenes, in der sonne blitzendes schwert erinnert hatte); jedenfalls konnte sie so nicht bestätigt werden. so schön ist das leben nun einmal nicht, und deshalb, warum sonst, braucht es geschichten, als entwurf einer wahreren welt. und das schöne ist: diese innere wahrheit kann niemals angezweifelt werden. vielleicht hat es das kind auf den treppenstufen des palastes gegeben, vielleicht nicht. daß aber die schlacht zwischen Artus und Mordred durch ein leichtfertig gezogenes eisen ausgelöst wird, oder daß Philemon und Baucis in bäume verwandelt werden, ist unbezweifelbar „wahr“. indessen wäre aber eine geschichte, in der der böse wolf von rotkäppchen geküßt und in einen schönen prinzen verwandelt wird, nicht „falsch“ (in welchem sinne denn auch?). man könnte nicht ausrufen, „das stimmt doch gar nicht!“, höchstens „die geschichte geht anders“, was nicht dasselbe ist. insofern ist jede geschichte wahr, sobald sie erzählt wird. deshalb ist, auf ihre weise, auch die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes wahr, dann nämlich, wenn man sich die geschichte vom kind auf den stufen des regierungspalastes erzählt; sie ist so wahr, wie es eben nur eine geschichte sein kann. nicht eine, wie das leben sie schrieb. sondern wie man sie sich manchmal für das leben wünscht.
von:
Talakallea Thymon - am: 12. Aug, 10:29 - in: Werke & Tage
Ich bin wohl einer von denen, die selbst einer verlorenen Sache immer noch die Treue halten, und sei es auch aus reiner Halsstarrigkeit, sogar dann, wenn ich selbst es war, der das zu Fall gebracht hat, dem ich jetzt, halsstarrig und überflüssigerweise, die Treue halte. Wen kümmert's und was hoffen wir davon zu haben, jetzt oder dereinst? Liegt es in unserer Natur? Können wir nicht anders? Erst zerschlagen wir alles, dann bauen wir einen Tempel den Scherben, der Asche, den Briefen, die wir selber geschrieben haben, und die wir jetzt lesen, wieder und wieder, solange, bis das Papier so dünn geworden ist, daß die Buchstaben spinnwebfein in der Luft hängen und zu wackeln beginnen, wenn man keine ruhige Hand hat.
von:
Talakallea Thymon - am: 19. Jul, 00:39 - in: Wem nie durch Liebe Leid geschah
Nein, liebe Hersteller des
E*e*a-Bio-Wertkost-Müslis, Spelzen im Müsli sind
kein Zeichen von Natürlichkeit, schonender Verarbeitung oder ökologischer Verantwortung, sondern ein Zeichen schlampiger Arbeit und mangelnder Sorgfalt, sonst gar nichts. Versuchen Sie nicht, mir etwas anderes weiszumachen und Ihre Schlamperei mit dem Öko-Deckmäntelchen zu tarnen. Federn oder Schalen sind auch natürlich; trotzdem haben sie auf dem Brathähnchen und in der Nußmischung ebensowenig verloren wie Spelzen in der Flockenmischung.
von:
Talakallea Thymon - am: 17. Jul, 11:10 - in: O tempora, o mores!
Allmähliches Umkreisen der wirklich schwierigen Szenen. Ich schreibe um den heißen Brei (in dem Fall sogar die heiße Liebe) herum und lege Kreis um Kreis an Ausweichmaterial um das Noch-zu-Schreibende, den Kern, das Gravitationszentrum. So gruppiert sich die Geschichte allmählich aus lauter infinitesimalen Annäherungen um ein Nichts herum, um ein noch zu füllendes, alles entscheidendes Nichts. Je näher ich aber komme, desto mehr bleibt noch. Sich zu zwingen, täglich zu schreiben, das kann die unerwünschte Wirkung haben, daß man Beliebiges zusammenstoppelt, nur um irgendwas zu sagen. Auf diese Weise kann es bis zur ersten Berührung noch etwas dauern, vom ersten Kuß (den es nicht geben wird, oder wenn, dann ist es ein anderer) oder gar weiteren ersten Dingen ganz zu schweigen.
Nicht daß ich beabsichtige, in diesen Punkten allzu explizit zu werden, ohnedies.
von:
Talakallea Thymon - am: 16. Jul, 11:29 - in: Tagewerke
„Dämmerung glitt über die Dächer. Auf den Schindeln lag gegen Westen noch ein wäßrigtrüber Schimmer, der die Dächer zu transparentem Glänzen brachte, die Flächen milchig emporhob und verdünnte, und bis an den Ostrand dieser Steinflächenlandschaft das Relief Ziegel für Ziegel schuppiger und deutlicher hervortreten ließ, ehe er abriß und gegen den dunklen Nachthimmel fortbrach. Ziegelsteine und Schornsteinrohre verklammerten sich mit dem Himmel, ihr Kupfer ermattet und schwarz und drauf und dran, in die Silhouetten der Dächer zurückzuschrumpeln. Ein leichter Wind kam auf. Gerüche von vergangenen Sommern stiegen herauf, Duft ohne Blüte, Wasser ohne Tiefe, süßer Moder. Plötzlich ein Tapsen, ein Scharren, das Fiepen eines Vogels: Eine Katze, ein zuckendes Federbündel im Maul, erschien im Ausschnitt des Fensters. Sie verhielt kurz, und Vogel wie Raubtier starrten R. einen langen Augenblick an, Räuber und Opfer gleichermaßen wie erschrocken über das Unerwartete, das da in ihr uraltes Drama hereinkam. Die Katze wartete lange Sekunden, während derer der Vogel völlig stillhielt; sah mit jenem gelassenen Schrecken, wie nur Katzen ihn hinkriegen zum Fenster, und huschte dann übers Dach davon. Erst bei der letzten Bewegung begann auch der Vogel wieder zu zucken. Aus der Straße tönten hallende Stimmen herauf, die Laternen hatten da einen Milchsee ausgebreitet, der die Backsteinmauern der gegenüberliegenden Gebäude mit weißlichem Schein anhauchte. Der Rand eines beleuchteten Werbeplakats ragte ein kleines Stück aus der Tiefe. Von dort, gedämpft und in der Luft hin- und hergerissen, drang Marschmusik von Blechbläsern, ein schleppendes Ostinato, spitze Flötenschreie, darin das Gejammer einer Klarinette, ein quitschtrauriger Lärm, der sich langsam entfernte, noch einmal aufheulte, erstarb. Eine Autotür schlug zu. Ein Motor sprang an.
Da fühlte R. plötzlich eine tiefe Sehnsucht in sich aufwachsen, wie nach einer vergessenen Melodie, die ihm in diesem Augenblick, während eine Stimme unten mit anderen lachte, aus dem Vergessen heraus unerkannt zugeblinzelt hatte. Eine Stimme rief. Ein Tuch wogte aus dem Fenster gegenüber. Die Silben eines Traumes wirbelten auseinander, eine Katze trug einen Vogel im Maul, und ein aufgeflackertes, gerade wieder entschwundenes Wort ließ eine dürre Wehmut zurück. Drüben, in einem anderen Fenster, bauschte sich ein Vorhang.
Er zog die Gardine wieder vor.
Als er später im Bett lag, kam es zurück. Es war plötzlich wieder da, wie die Silben eines Wortes, das sich aus einem Traum herausschälen will; ein Flackern der Ränder des Bewußtseins; warm und aufmerksam und verheißungsvoll, wie der Blick einer Frau mit einer wundervollen, den Mund freilassenden Maske, die, quer durch einen Raum voller belangloser Menschen, dich und nur dich trifft und treffen wollte. Und so wie der Blick sich, kaum erwidert, abwendet um nicht mehr oder vielleicht doch noch einmal zurückzukehren, so floh diese Sehnsucht vor ihm.“
Ich sah auf. „Hast du etwas gesagt? Ich habe doch etwas gehört. Aber gelacht, gelacht hast du doch! Oder geweint wenigstens?“
Nichts. Die Gardine bauscht sich. Aus den Fenstern, schwer von Nacht, trat mir mein Spiegelbild entgegen.
von:
Talakallea Thymon - am: 15. Jul, 12:17 - in: Die Stadt am Ende des Jahrtausends
Aus unruhigen Träumen (ein Auto, ein fremdes Land, Gefahr von Anschlägen, von Kugelhagel) erwacht zu unbestimmtem Unwohlsein. War es Übelkeit? Atemnot? Eine Art von Beklemmung, als hätte ich abgestorbene Luft geatmet. Das Zimmer, das Fenster, die Nacht totenstill, warm, unbeweglich.
Ich riß das Fenster ganz auf, atmete mehrmals tief durch, reckte mich und legte mich vorsichtig wieder hin. Ein Weilchen blieb ich noch wach, prüfend, ob die Übelkeit wiederkäme, schlief dann aber schnell wieder ein.
Später ein weiterer Traum. Nicht daß ich je solche Träume gehabt hätte, als ich wirklich eine Abschlußarbeit schrieb. Träume, in denen ich am Tage einer Premiere nicht eine einzige Zeile Text konnte, hab ich auch immer erst Jahre nach der Aufführung geträumt. –
Wann denn der Termin für die Anmeldung sei? frage ich im Traum einen Kommilitonen.
Ach, da könne man immer vorbeigehen, das ganze Jahr durch.
Nein, nein, wann denn die Frist sei?
Im April sei das gewesen für den Wintertermin; das paßt mir gar nicht. Ich überlege. Dann muß ich den Sommertermin nehmen. Das heißt, es wird April, Mai 2009. So lange noch!
Ich tröste mich mit dem Gedanken, daß ich ja, angemeldet oder nicht, schon einmal anfangen könnte zu schreiben, da ist der Traum zuende und ich erwache.
von:
Talakallea Thymon - am: 11. Jul, 10:48 - in: Werke & Tage
Nein. Ich werde nicht groß werden, egal wieviele bücher ich nicht mehr schreibe.
von:
Talakallea Thymon - am: 9. Jul, 11:43 - in: Werke & Tage
Zwischen Frühstem und Frühem wachsen den Stunden die Bilder:
Was die Haut nicht begriff, bleibt mir als Traumlicht zurück.
von:
Talakallea Thymon - am: 9. Jul, 11:24 - in: An habent et somnia pondus
Man fragt sich, wer dort wohl wohnt. Ein Fenster mit Gardine. Eine Blumenampel, quietschrote Pelargonien. Wer lebt da, zum Winken nah, auf Augenhöhe mit den Oberleitungen, mit dem Rattern und den zuckenden Blitzen unter den Füßen?
Ein Alltag in der Ausnahmewelt des Reisenden: Auch hier gibt es Mülleimer und Kioske, Werbetafeln und das Geflimmer auf Bildschirmen. Auch hier gibt es einen Supermarkt, der Teppichvorleger verkauft und Grillanzünder und Katzennahrung, auch hier gibt es Nach-hause-Wege und Briefschlitze.
Bahnhöfe wie einer Spielzeugwelt entstiegen, mit einer Ortstafel in wilhelminischen Lettern, Holzbänken im Schatten und einem hübschen Bahnwärterhäuschen, erbaut in Zeiten, da man ein solches Gemäuer noch liebevoll mit Gesimsen, Türmchen und Mauerbögen über den Fenstern verzierte. Zwischen Bahnsteig, Garten und Straße steht es, mit einem Fahrradladen im Erdgeschoß und Mietern im ersten Stock. Die Namen heißen Bensheim, Goarshausen, Welgesheim-Zotzenheim oder Urft. Schlichtländliche Einsilbigkeit. Haltepunkte im scheinbaren Nirgends, aufgewürfelte Häuser in einem Schnitt zwischen Äckern oder Wein, wo es über Gräben silbrig distelt und auf den Umfriedungen Katzen in der Sonne dösen. Hart steigt darüber das Tal an, der Fluß heißt Lahn oder Ahr oder Rhein, und das Licht ist staubig von Feldern. Im Wartesaal ist es kühl im Sommer und eisig im Winter. Der Putz bricht von den Wänden. Abfahrtpläne wellen sich hinter trübem Glas, verlieren ihre Farben und ändern sich jahrzehntelang nicht. Vielleicht gibt es sogar noch einen Schalter, wo hinter einem Doppelglas mit Drehdurchreiche ein Bahnwärter Kaffee kocht. Sommers tritt man aus dem dämmrigen Raum mit verhallendem Schritt in die Sonne, da flimmern die Schienen der Ferne entgegen, und anstelle einer Halle wölbt sich über den Geleisen ein von Schwalben durchzuckter Himmel.
von:
Talakallea Thymon - am: 3. Jul, 11:14 - in: orte. wege