Freitag, 11. Januar 2008

Lektüren 2007

In meinem Leseverhalten hat sich in jüngerer Zeit eine Konstante herausgebildet, die den Ort oder ganz allgemein den Kontext der Lektüre betrifft. Es ist nämlich so, daß ich bestimmte Bücher nur in bestimmten Situationen lese. So sind die Bücher, die ich am Küchentisch während meiner Mahlzeiten (die ich meist allein zu mir nehme) lese, andere Bücher, als diejenigen, die ich vor dem Schlafengehen oder in Bus und Bahn lese, und auch von ganz anderer Art, wie der Liste zu entnehmen ist. (gerade fällt mir auf, daß diese drei: Verkehr, Bett, Essen, fast ausschließlich die einzigen Lesekontexte sind. Jedenfalls lese ich selten „einfach so“, sondern meist, weil es nichts anderes zu tun gibt, etwa, weil man darauf wartet, daß es weitergeht, man irgendwo ankommt oder der Zug endlich einfährt. Eine Ausnahme bildet Fachliteratur, die ich lesen muß, und zu deren Lektüre ich mich gezielt hinsetze. Aber das ist kein Lesen, das ist Arbeit. Ich scheine für zweckfreies Lesen wie etwa Belletristik eine innere Rechtfertigung zu brauchen, eine Belohnung nach abgeschlossener Arbeit etwa, oder eben, weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe. Bedenklich.) Jedenfalls habe ich meine Lektüren 2007 auf zwei Listen verteilt, die diese Situation nachzeichnen.
(Mit % bezeichnete Bücher blieben liegen.)
Am Eßtisch: Noch zwei Worte zu einer Art von Bewertung: Was mich wirklich überwältigt hat wie selten ein Buch: Peter Handkes „Mein Jahr in der Niemandsbucht“. Über diesen Eindruck habe ich bereits geschrieben. Das zweite ist Javier Marías’ „Dein Gesicht Morgen“. Da schafft es ein Autor, ein einziges, kaum zehn Minuten dauerndes Ereignis so intensiv vorzubereiten, anzukündigen, anzudeuten, ja, anzudrohen, und das 400 Seiten lang, daß der Buchrücken Schweißflecken abbekommt. Und das in einer sicheren, modernen, unaufgeregten und doch ausdrucksstarken Sprache, ein- aber nicht aufdringlich. Dies höchste Erzählkunst zu nennen wäre untertrieben.
Ich habe weniger Abgebrochen im letzten Jahr. Entweder hatte ich mehr Durchhaltevermögen, was ich, angesichts von Unleserlichem wie „Blanche oder Das Vergessen“ oder „O άγγελος της στάχτης“ nicht für unwahrscheinlich halte, oder ich hatte einfach ein glückliches Händchen bei der Auswahl. Vermutlich ist beides der Fall.
Eine weitere Entdeckung war Rushdie, dessen „Midnight’s Children“ ich im Sommer las. Beeindruckend in Sprache und Stil, ein Feuerwerk an Einfallsreichtum, Skurrilem, Zauberhaftem, Magischem, daß es dröhnt und quietscht und kracht. Allerdings muß man sagen: In der zweiten Hälfte wäre weniger mehr gewesen, da franst es nämlich.
Und noch eines, nein zwei: Dostojewskij lese ich nicht mehr. Das ist mir einfach zu blöd. Ich muß mir allmählich nicht mehr sagen lassen, was ein gutes Buch ist. Und das „Rubinhalsband“ von Henning Boetius ist einfach nur stuß.
Übrigens lese ich gerade „Away“ von Jane Urquhart: Eines der Bücher, die nur solange begeistern, wie man sie liest. Eine kurze Pause genügt, und die Begeisterung ebbt ab. Schade, daß die Handlung so merkwürdig und unglaubhaft ist. Die Sprache hätte einen schöneren Plot verdient (oder weniger davon). Gerade beendet habe ich Passig & Scholz „Lexikon des Unwissens“. Mehr darüber nächstes Jahr.
Ach noch etwas: Empfehlungen für 2008?
Schreibman - 17. Jan, 12:11

Freut mich,

dass Dir Handkes "Niemandsbucht" anscheinend genau so gut gefallen hat wie mir. Ich habe das Buch schon vor mehreren Jahren gelesen und war wie - nein, nicht gefesselt. Ich habe es einfach sehr gerne gelesen und fand es gut, interessant und irgendwie sogar richtig spannend. Liebe Grüsse

_vel - 18. Jan, 07:37

was hat es eigentlich

mit murakami auf sich?
in mexiko wurde der auch gelesen, von mehreren gleich. afterdark, genau. ich konnte bis auf die regieanweisungen nichts interessantes ausmachen. kannst du mir auf die sprünge helfen?

Talakallea Thymon - 18. Jan, 09:47

Oh, aber gerne! Hallo _vel!

Ich darf dir gleich versichern, daß du mit deiner einschätzung ("nichts interessantes") vollkommen recht hast -- "Afterdark" halte ich für M.s mit abstand schwächstes buch. aber wenn du es noch einmal mit diesem autor versuchen möchtest (und ich empfehle es unbedingt), dann lies "The Hard-boiled Wonderland and the End of the World" (das ich für sein bestes halte). Auf jedenfall lesenswert das tieftraurige "Norwegian Wood" (mit einem der besten schlüsse, die ich je gelesen habe), oder die mystischen "The Wind-up Bird Chronicle" und "Kafka on the Shore". Außerdem ... ach, alles andere halt. Wobei ich sagen muß, daß ich die vielgefeierten Bücher, die um den Schafmann kreisen, nicht soooo umwerfend fand. Aber vielleicht geht es dir ja anders.

Wie war's in Mexico? Wieder zurück? Die neue kamera heil und noch in deinem besitz? ;-)
tinius - 18. Jan, 08:28

Deine Begeisterung für Rushdies "Mitternachtskinder" und Handkes "Ein Jahr in der Niemandsbucht" teile ich uneingeschränkt, bei Dostojewskij mag ich Dir nicht folgen, gehört er doch zu meinen Lieblingsautoren. Aber über Geschmack läßt sich bekanntlich kaum streiten. Genau das aber macht es auch schwer, eine Empfehlung auszusprechen, zumal ich bislang nur Deine Listen von 2007 und 2006 überflogen habe, bei denen zudem wenig bewertet wurde. Rein subjektiv würde ich Dir David Mitchells "Der Wolkenatlas", bei dem Dich das Experimentelle allerdings nicht stören sollte, Matt Ruffs "Ich und die Anderen", Ian McEwans "Am Strand", John Banvilles "Die See" oder Davide Longos "Der Steingänger" vorschlagen, allerdings ohne dafür eine Haftung übernehmen zu wollen. ;)

Talakallea Thymon - 18. Jan, 10:08

ich glaube, meine abneigung gegen Dostojewskij kann ich präzisieren, oder doch zumindest so andeuten, daß eine entgegnung (und richtigstellung?) möglich wird: ich würde mich freuen, wenn jemand meinen blick auf diesen autor relativieren könnte, indem er mir aufzeigt, was lesenswert daran ist und, umgekehrt, die ursache meiner abneigung so erklärt, daß sie entkräftet wird.

es ist dreierlei, was mich an D. (und im übrigen auch an Tolstoj) stört: Erstens die sprache, die ich unbeholfen und holperig finde (das mag an der übersetzung liegen; russisch spreche ich leider nicht; vielleicht sollte ich mal eine englische übersetzung versuchen); zweitens eine eigenart der beschreibung, die ich ad hoc finde und die manchmal so klingt wie von einem mittelmäßigen schüler verfaßt, etwa so: "Aljoscha schwieg und sah seinen Bruder aus irgendeinem Grund mehrere Minuten scharf an." -- ich vermag mir diese szene nicht vorzustellen, wie soll das gehen, mehrere minuten scharf ansehen. und der bruder? schweigt dazu? erwidert diesen blick? weicht aus? wir erfahren es nicht. des weiteren: was soll "aus irgendeinem grund" heißen? das fällt für mich in die kategorie, "nichts eingefallen". genauso wie die phrase "unbeschreiblich". das darf einem schriftsteller nicht unterlaufen, das ist ein eingeständnis seiner unfähigkeit. schließlich drittens: ich mag romane nicht, die praktisch nur aus dialogen bestehen. und vielleicht viertens: die ganze welt (bürgerliche gesellschaft der späten zarenzeit) ist mir einfach völlig fremd (und erschließt sich mir nicht).

aber wie gesagt, vielleicht kannst du ja abhilfe schaffen, und mir einen fingerzeig geben; dann lese ich die "Brüder K." vielleicht doch noch zu ende ...
Sturznest - 18. Jan, 13:03

Aber muss man dass denn? Ich meine wenn man Dostojewski nicht mag.
Mittlerweile gibt es aber doch die überaus hochgelobten Übersetzungen von Swetlana Geier. Aber ich fand die früheren schon großartig, Schuld und Söhne, der Idiot usw. Allerdings bei den Brüdern K. da bin ich auch noch nicht bis zum 1 Teil herausgekommen.
Holprig allerdings finde ich weder Tolstoi noch Dostojewski, alleine die Schilderung des Weges von Anne Karenina zum Bahnhof wo sie sich einem Zug entgegen schmeisst, ist WELTKLASSE....Aber trotzdem, wenn es nicht geht es nicht. früher glaubte ich immer ich müsste anderen meinen Literaturgeschmack aufbrummeln, aber das ist Unfug, man kann schließlich nicht alles mögen.
Talakallea Thymon - 18. Jan, 13:10

na ja, ich habe eben den verdacht, daß mehr dahintersteckt, und es sich lohnen würde, meine abneigung zu überwinden; gleichzeitig wünsche ich mir eben eine aufklärung, warum ich den stil holprig finde.

Sturznest - 18. Jan, 13:29

Könnte es sein dass es an den Namen liegt? Ich habe mir was das betrifft mich davon nicht abbringen zu lassen, selbst wenn ich die Namen nicht aussprechen kann. Oder es sind die langen Gespräche, oder die Beschreibungen der Haupt und der Nebenpersonen?
tinius - 18. Jan, 19:04

Ich wüßte ja doch erstmal gern, welche Übersetzung da im Bücherregal steht. ;) Ich habe ausschließlich die älteren (Winkler / dtv bzw. Piper), die eigentlich im Gegenteil den Eindruck des Gemächlichen, Fließenden machen, etwas was ich an der Literatur vergangener Jahrhunderte durchaus immer wieder zu schätzen weiß. Ich vermute fast, es ist die Geier - Übersetzung, der ab und an eine gewisse Ruppigkeit, die aber weit mehr dem Original entsprechen soll, bescheinigt wird. Ich tu mich im übrigen schwer, jetzt Argumente für D. aufzufahren, zum einen weil sturznest durchaus recht hat mit der Feststellung, daß jeder seine Auswahlkriterien hat, zum anderen weil meine Lektüre etliche Jahre zurückliegt. Das minutenlange Starren kann ich mir durchaus vorstellen, zumal ja Aljosha - wenn ich mich recht erinnere - die moralische Autorität in diesem Buch ist. Ob und welche Reaktion erfolgt, kann man vielleicht anhand der nächsten Sätze erkennen, vielleicht auch nicht. Es muß generell nicht immer alles (aus)erzählt werden. "Aus irgendeiunem Grund" ist immer dann legitim, wenn der Autor eine personale Perspektive einnimmt und weder allwissend ist noch die Motivation des Handelnden wissen kann, weil es eben nicht die personale Perspektive des Handelnden ist. Ebenso könnte "unbeschreiblich" eine Außenperspektive verkörpern, zudem kann man nicht jeden Fitzel bis in die Feinheiten analysieren, ohne bald langweilig zu werden. Generell gibt es aber mit Sicherheit zeitgebundene Erzählkonventionen, die es eher verbieten, Techniken und Ansprüche der zeitgenössischen Literatur vorauszusetzen. Aber das sind - ohne Texxtarbeit - allenfalls Hypothesen. Generell versuche ich, jedes Buch aus sich heraus sprechen zu lassen. Ich bin auch eher Buchhändler, nicht Literaturwissenschaftler, also mit Sicherheit nicht allzu kritisch, zumal mir da die akademische Basis fehlt. Mir ist es in meinem Weblog wichtig, die Freude am Lesen und an bestimmten Büchern zu vermitteln, dafür auch Gründe zu liefern, aber sicher nicht auf einer wirklich professionellen, universitär begründeten Basis. Denn da wäre ich überfordert.

VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

Epistolae electronicae:

talapenthea_thymon ad hotmail punctum com

Spurensucher

 

Web Counter-Modul


Marbach

Dieses Weblog wird durch das Deutsche Literaturarchiv Marbach archiviert.

Metron ariston

Pflichtnennung


Als wären nicht zweimal die Kräfte
An habent et somnia pondus
Astartes Lächeln
Colourless green ideas
Daß alles für Freuden erwacht
Dem geschah auch Lieb durch Liebe nie
Die Stadt am Ende des Jahrtausends
egregie dicta
Fasti
Flaschenpost
hemerolog
In Nemore
Logolog
Ludus Latinus
Mores Ferarum
Nicht mit gar zu fauler Zungen
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren