stundenbuch
Abend in Impekoven. Gras unter schräger Sonne besponnen mit silbrigschwankenden Drähten von Halm zu Halm. In Stille eingesunkenes, zerhuftes Klappern, Stimmen von fern, vertröpfelnd zagen die Vogelstimmen. Meisen, eine letzte Amsel, ein Zilpzalp, fast ists ein Zuhause, zumindest tönt die Stunde wie eine Rückkehr. Nur so allein, was aber vielleicht gar nicht so schlimm ist.
Ende März schrieb ich dies, erinnernd. Ich konstruiere mir meine neue Verfaßtheit, eine Ichbestimmung für die nächsten Monate erfinde ich mir, lege mir meine Einsamtage, meine Genügsamtage zurecht und vor mich hin. Betrachte diese neue Zeit und nehme mir vor, ohne Leid, ohne Zerquältheit zu sein. Annehmen, was kommt, ebenso wie was ausbleibt, das will ich, und keinen Mangel dabei haben.
von:
Talakallea Thymon - am: 12. Apr, 11:39 - in: stundenbuch
Verschwitzt, und den Reisegeruch noch in den Kleidern, am Leib: so kam ich an. Schlafgedämpft dämmriger Kopfschmerz begleitet die Blicke durch Bahnhofshalle, Straße und Brücke. Die Fahrt selbst hatte ich, aufgehängt in Wahrnehmungsfetzen, durchdämmert, was sonst nie geschah. Etwas zerwalkt fühlten sich die vergangnen vierundzwanzig Stunden in Mannheim an; nicht befüllt mit Zeitfluß, sondern mit einer holprigen Fahrt, die umwegdurchkreuzt schien. Dann die Reise, erst drohend bevorstehend, dann eine Last, ein Berg, dann ein sehnsuchtsvolles dem Ende Entgegenfallen. Immer war das so, das Heimkehren in die Fremde, die plötzlich wieder fremd ist und aufs neue und immer aufs neue Heimat werden muß, fällt schwer. Seltsam. Komme ich heim zu den Eltern, immer ist da der Herd warm und die Wohnung vertraut riechend. Komme ich heim zu mir selbst, ist da ein Fremdhauch im Stiegenhaus, und die Straßen sehen wie argwöhnisch auf mich hinab, als ignorierten sie mich, indem sie mir aber dieses Ignorieren deutlich vor Augen zu führen bestrebt sind.
Diesmal gings ja aber nicht nach Hause zu fremdgewordnem Eigengeruch, sondern zu Beistand, Mutzuspruch, Korrekturlesen. Zerstreutmüde in der späten Unstunde las ich oberflächlich und hoffe, es war gut. An meine eigene Zeit mich erinnernd, und daß es so anders war, denke ich: schön und freudig waren die Monate durchlebt, wie es oft geschah, wenn sich eine unmöglich scheinende Aufgabe als mir und meinen Fähigkeiten doch noch angemessen und mein eigenes Vermögen als viel größer denn angenommen herausgestellt hatte. Obs im Kunstunterricht in der Schule war, oder im Logikseminar oder bei der Abfertigung meiner Abschlußarbeit.
Ich bin jetzt selbst froh und erleichtert. Viel habe ich – wieder einmal – nicht tun können. Hilflosigkeit hab ich in den Händen gehabt. Aber was wäre gewonnen, wenn man als Engel aufträte. Es gibt Dinge, die nur dadurch bezwingbar sind, daß man sie selbst bezwingt. Ohne Hilfe muß man sie überwinden, sonst wächst man nicht.
Was man manchmal vielleicht gar nicht will, wachsen.
Als ich soweit war, was glaubte oder mutmaßte ich denn, wie es weiterginge? Was hoffte ich? Was waren die Ängste. Was die Wünsche. Erstaunlich scheint mir, wie wenig ich jetzt über meine damaligen Befindlichkeiten noch weiß. Und was ich weiß, das ist abstrakt, ist das Wollen und Wünschen und Hoffen und Angsthaben einer von mir verschieden gedachten Person. Natürlich weiß ich: Da war ein vager Traum von einer Doktorarbeit. Da war das kurzzeitige Aufblitzen von so etwas wie Mut, noch einmal feldforschend ans andere Ende der Welt und zu den Indianern zu reisen. Da war die kribbelnde Verrücktheit, Flugbegleiter zu werden und auf 30 000 Fuß Höhe Longdrinks servierend um den Globus zu fliegen.
Press your mask against mouth and nose and breathe normally.
Aber wie echt war das? Und wie hatte es sich angefühlt? War es ein Traum? Eine an den Rand des Möglichen herbeigeholte Vorstellung? Ein Entwurf, der Entwurf eines nächsten Lebenskapitels, der gleichwohl dann doch nur Entwurf sein sollte? Sich und mir darin genug war –
Wenn ich es recht bedenke, dann war das, was mich wirklich beschäftigt hat, was mich bis ins Mark hat erschüttern und umdrehen und handeln lassen können, damals wie später, wie eigentlich immer, – das Zwischenmenschliche. LiebeLiebeLiebe. Nichts sonst war so wichtig. Bis auf das Schreiben, natürlich: Denn wie ich die letzten Jahre hätte bestehen können – vorm Sturm, vor mir selbst, vor den anderen – bestehen, ohne Zuflucht, Wehr und Bannzauber des Wortes zu haben – das entzieht sich jeder Vorstellung.
Ich weiß nicht, ob ich ohne Frau, ohne Verwirklichung und Neuerfindung des Geschlechtlichen leben könnte. Ohne das Schreiben könnte ich wohl leben; aber es wäre ein ziemlich sinnloses Leben.
Mehr ein Lebendigsein.
von:
Talakallea Thymon - am: 7. Mär, 11:59 - in: stundenbuch
Eis überm
Herd Fenster voll
Wind und du sagst
„wieder“
ein Irrtum denn Zeit
läßt sich nicht pressen in Formen
im Wasserglas wird die Stille
schal
ungeachtet des
Tickens im Staub
unter den Beinchen einer Spinne
häuft es sich Heimlich an
Ticktack
Zufällig am Ort winterlang
Pilgerinnen drüsiger Wände
Emsig streifen Motorräder
halbe Tage strecken die Hand aus nach dir
entkleideter Nächte
weißt du nicht wohin
den Stunden ist
vieles peinlich
im See
spiegelt sich etwas das andernorts andrerzeit
oder
andernherzens ein geliebtes
Antlitz war hätte werden sein wollen können
zu Grund
schnabelvoll Geschrei als obs
so sein müßte darüber wobei
Zeit
sich absetzt auf Gießkannen, leer von Grün
letztjährig verjährte Fingerspitzen
krabbeln eine Kälte entlang so lange
ist Frühling nicht wie es noch –
„ein Irrtum“ denkst du obwohl
manchmal alles so sicher schien
von:
Talakallea Thymon - am: 1. Feb, 12:44 - in: stundenbuch
Endlich fühle ich den Mut zurückkehren, und meine Seele schwingt sich voll Wildheit empor und zu den wüsten Himmeln, und reiht sich wieder ein in die Stürme. Ihresgleichen will sie, kann sie, muß sie wieder sein. Und die Stürme, die nehmen sie lachend unter sich auf. Ich erwache aus duftenden Decken. Und endlich erwache ich wieder bei-mir. Ich bin frei, was auch geschieht, ich bin frei. Die Tage mögen dunkel sein oder grell, warm oder kalt, still oder von Winden zerzaust: meinen Händen geben sie sich willig hin, zu bildender Stoff, aus dem die Geschichten herausgeträumt, herausgewacht, herausgehandelt werden müssen.
Es wird Trauer geben; aber sie wird mich nicht verschlingen. Es wird Wut geben; aber sie wird mich nicht umstürzen. Es wird Schmerz geben; aber er wird mich nicht vernichten.
von:
Talakallea Thymon - am: 2. Dez, 10:37 - in: stundenbuch
Verwirrung schüttelt die Bäume aus, bis sie leer sind, so leer und einsamneu wie der Himmel, den sie festkrallen mit ihren erstorbenen Fingern. Unsicherheit streicht über die üppigen Pfützen, und der Regen gestern: War er nicht fast schon warm und vertraut angesichts dieses stürmischen Neu, das alle Zeiten vergangen und alt sein läßt und mit Macht sich gegen jedes Wiederkehren stemmt? Die eigenen Fußtritte glänzen noch im Schlamm, aber wohin sie führen, das weiß niemand mehr. Gestern schlug das Herz wie heute. Aber was tat es dazwischen? einen Augenblick nicht hingehört, und schon ist Tag und Nacht und wieder Tag entflohen.
Und so wird es auch weitergehen, wird es weitergehen müssen: Die Reihe der Tage bricht nicht ab und zu sich selbst kehrt sie nie zurück. Eins wird aus dem anderen geboren, aber die Kindertage haben die Elterntage getilgt hinter ihrer Stirn.
von:
Talakallea Thymon - am: 19. Nov, 11:19 - in: stundenbuch
Mantelloser Schlaf, schutzloser Regen, der Fernsehturm stochert im Nebel und blinzelt mir unheilvoll zu aus einem scharfroten Auge. An. Aus. An. Mechanisch. Erbarmungslos exakt. Zerstörte Trinkergesichter lauern an der Supermarktkasse. Genervt klappert der Müllschlucker und schluckt. Tropfen fallen von stillstehenden Fahrradspeichen. Oben, hoch oben, die ersten erleuchteten Fenster, sehr weit weg.
Der Herbst ist das, was sonst, und wie jedes Jahr scheue ich mich, einzutreten. Meine liebste Jahreszeit, und doch ist sie mir Aufgabe, das Bewältigenmüssen von etwas, das gelebt sein will. Aber wie? Wie?
von:
Talakallea Thymon - am: 27. Sep, 09:37 - in: stundenbuch
Plötzliche Todesangst jenseits der Dünnhaut des Schlafs: Schlimm nicht der Gedanke an das Ende an sich, sondern die Wucht der Einsicht, daß ich nichts, aber gar nichts von dem, was mir wirklich wichtig ist, geschafft habe. Und so wäre es nicht genug. Zu viel lastend Ungelebtes. Zuwenig Gelebtes. Es wäre einfach nicht genug. Es wäre bitter.
Aber täuschen wir uns nicht. Es wird wohl nie genug sein.
von:
Talakallea Thymon - am: 27. Sep, 09:34 - in: stundenbuch
- ein erfüllendes Liebesleben (für Geld nicht zu haben)
- viele viele Freunde (für Geld nicht zu haben)
- die Nähe und das Gespräch geliebter Menschen (für Geld nicht zu haben)
- Bücher (noch gibt es öffentliche Leihbibliotheken)
- die Zeit, Tage in schöpferischer Muße hinzubringen (für kein Geld zu haben – oder für sehr viel)
- wilde Wälder, saubere Seen, klare Luft (für Geld nicht zu haben)
- menschenleere Räume (für Geld nicht immer zu haben)
- gutes Essen (für wenig Geld zu haben)
- Schreiben (für Geld nicht zu haben)
- nächtliches Schweigen und eine Nacht unter freiem Himmel (für Geld nicht immer zu haben)
- sich an den Lebenswundern dieser Erde freuen dürfen (für Geld nicht zu haben)
von:
Talakallea Thymon - am: 11. Sep, 10:17 - in: stundenbuch
Auf einmal: Ruhe Und das Herz ist still
und Traurigkeit verhängt die nassen Scheiben
Ein Nebel fällt Ein Vogel schweigt Die Eiben
wie Wälle stehn Mag sein ein Röslein will
noch wo verspätet weilen Geht ihr Jungen
und seht ob ihr sie finden könnt noch eh
der Abend sie verbirgt und netzt der Schnee
die Stirne ihr. Schon schärft der Frost die Zungen
und Dunkelheit beflüstert die Zypressen
Die Tage stürzen strenger abgemessen
so hebt sich fort des Sommers letzte Schwinge
Und wie ein festlich Lärm der in der ferne
verhallt verläßt die Liebe uns Die Sterne
stehn schön und kalt Der Mond hebt seine Klinge
von:
Talakallea Thymon - am: 2. Sep, 10:39 - in: stundenbuch
In einer Welt Lieder singen
– in dieser Welt Lieder singen –
in der die Sprache der Engel nicht mehr
verstanden wird,
muß sein,
als betrachte man den Duft einer Rose,
als wolle man den Sonnenuntergang riechen,
die Bäume wachsen hören.
Wie Splitter bleiben unsere Blicke haften
an der Welt, doch sind sie uneins,
doch will für uns sich eins in eines fügen.
Dazwischen müßte man sehen hinein,
in die eigne Blindheit, zwischen Blick und Blick,
ins Dunkle.
Hätten wir sie wenigstens einmal gesehen – wie schwer
viele uns das Leben, und wie süß
wär jeder Schritt und voll vom Ohnesie, und Schmerz und Mangel,
wie köstlich wäre es, sich nicht die Augen verhüllt zu haben,
mit ihrem Anschauen im Herzen weiter und weiter zu gehen, wie köstlich und schwer
ihnen nicht folgen zu können, zurückbleiben in der Welt ihres Fehlens,
übrigsein, ihnen verfallen sein, und doch gekettet unter den
Himmel, Erdschmerz im Auge:
Sie geschaut haben.
Und doch haftet ihr so etwas an, dieser Welt,
ein großes Nach, ein Dämmern, wie der
Schatten eines verjährten Traums. In den
Bächen ist es, und in jener Stunde, so schwierig zu kennen,
zwischen zwei Schnabelvoll Amsel, des Abends.
Wer aber erinnert sich? Sind wir es, die das Holde haben
schauen dürfen? Was erinnert sich in uns, wenn wir
das Durchziehende zu ahnen glauben?
von:
Talakallea Thymon - am: 2. Jul, 12:18 - in: stundenbuch