Freitag, 26. Oktober 2007

Trick 17

Morgens jetzt immer um sechs aufstehen, nicht zum laufen, sondern zum schreiben. Unter allen schwierigen schreibstunden des tages scheint das die am wenigstens schwierige, die am schwächsten widerstand leistende stunde zu sein. Der kaffee durchhellt und befeuert die müdigkeit, nimmt ihr das schläfrige und schwere, und verwandelt sie in eine so transparente konzentration, daß es, horcht man nur hin, aus dem noch in den träumen wurzelnden unterbewußten worthaft zu brodeln, zu schillern und zu purzeln beginnt; oder vielleicht ist es einfach ein von der stille des schlafs geschärftes inneres ohr, das später am tag für gewöhnlich zufällt. Jedenfalls scheint der trick zu funktionieren, vorläufig zumindest. Ich werde nicht so wach, daß die stimmen verstummen, und bin doch dank dem kaffee nicht mehr so schläfrig, daß jeder tastendruck ein schrei nach ausruhen wäre. Eine halbe seite ist in so einer morgendlichen sitzung durchschnittlich schaffbar. Läuft es gut, auch beträchtlich mehr.
Das ganze in strenger disziplin. Das heißt: Jeden werktag. Ein ritual. Nur so ist gewährleistet, daß ich nicht wieder den kontakt verliere zur in der erschaffung befindlichen (und erst halbgeschaffenen) welt, daß die wege offenbleiben, die ver- und abzweigungen sichtbar und zahlreich. Das ziel: die rohfassung fertigzustellen bis zu meinem geburtstag. Ein geschenk an mich selbst, könnte man sagen. Es ist jetzt zehn jahre her, daß ich begann, diese geschichte zu schreiben, wieder und wieder von neuem.

wecker

Dienstag, 16. Oktober 2007

Taste the Future

Der Welternährungstag findet jedes Jahr am 16. Oktober statt und soll die Menschen daran erinnern, dass noch immer eine große Anzahl Menschen Hunger leiden müssen.

Ist es Zynismus, Boshaftigkeit, Unbeholfenheit, Zufall, Planungszwang oder ganz einfach schiere Gleichgültigkeit, daß die Veranstaltungszeit der Schlemmermesse Anuga diesen Gedenktag einschließt?

Ein Vorschlag: Alle am heutigen Tage erwirtschafteten Gewinne auf der Messe werden gemeinschaftlich der Welthungerhilfe oder einem vergleichbaren Verein gespendet. Na, wär das was?

Das Motto der Messe lautet übrigens: "Taste the future". Da kann man nur anfügen, wohl dem, der eine hat.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Entgeistert

Gerade bei der täglichen Wikipedialektüre gelesen, daß der Normalweg auf den Mount Washington, mit 1917m höchster Berg des Bundesstaates New Hampshire "von der Marshfield Station mit der Zahnradbahn zum Gipfel" sei.

Wie, denke ich, zu Fuß kommt man nicht rauf?

Verwirrend

... daß einerseits die Macher der entsetzlichen Radiowerbung meines Supermarktes nicht wissen, daß Federweißer wie ein Adjektiv zu deklinieren ist (des Federweißen, dem Federweißen, den Ferderweißen, oh Federweißer!) und den Sprecher enthusiastisch fragen lassen: "Was paßt eigentlich zum Federweißer?"; verwirrend weiterhin, daß man hierzulande wohl noch etwas grün hinter den Ohren ist, was die Kultur rund um den Neuen Wein angeht, und das, obwohl wir hier in nächster Nähe nicht nur ein berühmtes Weinbaugebiet haben (Rhein & Ahr); verwirrend schließlich, daß die Deklination auf Pfälzisch dann wieder gestimmt hätte.

Montag, 8. Oktober 2007

Random Acts of Viciousness

Einmal möchte man das tun, alles in Kauf nehmen, gerne zahlen, bereitwillig, genüßlich sogar, den Ärger abkriegen, ist ja nur ein finanzieller Schaden, der läßt sich wiedergutmachen, es tut ja nicht wirklich weh, dafür wäre es aber absolut lohnend, also:
Einmal nur unter Ausnutzung des Überraschungseffekts einem dieser Blechschepperer die Ohrstöpsel vom Kopf reißen, dann im selben Schwung das daran angeschlossene Telephon, den Eipott, den MP3-Spieler oder wasweißich mit raschen Griff entwenden, mit der anderen, freien Hand das Zugfenster herunterreißen und das ganze hassenswerte Ensemble, Ohrstöpsel, Kabel, Kiste, alles in hohem Bogen hinauswerfen.
Und dann in das starre Schweigen der Schrecksekunde und das entgeisterte Gesicht des Schepperers hineinsprechen und leise, ganz leise feststellen:Schluß jetzt!

Blech

Mittwoch, 3. Oktober 2007

...

Spinnengruen

Dienstag, 2. Oktober 2007

...

Oder neulich, auf einem Gang an den Pferdekoppeln oberhalb von Nettekoven. Ich hatte Schlehen gesammelt, am einzigen Strauch, der welche trägt dieses Jahr, eine kleine Tüte voll; dann trugen mich die Füße fort wie von selbst, in kleinen, schwebenden Schritten, über den aufgeplatzten Asphalt des Fahrwegs, zum Wald. Es war eine Stunde der Wachheit, wie ich es nenne. Am späten Nachmittag, nach Kaffee und Ruhen, im Freien, auf dem Feld oder einem Waldweg, geschieht es manchmal, daß die Atemzüge sich verdichten, die Schritte wie Pendel fallen, die Widerlager der Arme in knappster Genauigkeit auf und nieder schwingen. Dann ist die Luft dünn und gespannt, von Geräusch und Licht flackernd. Die Finger zucken nach Berührung, nach Erproben, die schrundige Borke einer Eiche, die Schuppen einer Föhre, einen Zapfen, eine Handvoll roter Sand, einen abgeknickten Zweig; der Blick schwirrt in den faserigen Höhlen der Hecken, Wegraine und brombeerumspindelten Zäune, Hände in den Taschen bleibe ich stehen, atme tief aus in die Ebene hinein, mit Stadt, Kirchturm und einem Heißluftballon darüber, lausche auf das Knirschen eines Fahrzeugs aus dem Waldparkplatz, auf Hufschläge und Kinderstimmen, und alles summt von verborgenen Geschichten. Stockschläge fallen aus der Tiefe des Pfades, und ins Gegenlicht hingehaucht, schwankt da, funkensprühend, die Gestalt eines Greises, der vielleicht gestern glaubte, seine Enkelin beerdigt zu haben, die gar nicht seine Enkelin ist. Ein junger Mann schlägt zaghaft die Autotür zu und wartet, die Augen beschattend, auf eine Frau, mit der er verabredet ist. Sie wird nie kommen. Jemand geht zwischen den Buchenstämmen, und ehe er verschwindet, blitzt ein Spaten kurz auf. Man betritt eine Hütte und findet auf eine Pritsche ein Photo von sich selbst.
Nur in einer solchen Stunde der Wachheit ist es je gelungen, einen Ort zu betreten, den ich mit einer Geschichte, wo sie als zitternde Spiegelung an die Oberfläche der Welt trat, gemeinsam hatte für die Dauer einer Betrachtung; einen Ort, an dem sie sich mir entgegenbog, so daß ich sie berühren konnte, ohne wirklich in sie einzudringen, bis ich schon wieder weg war, und das Fahrzeug, der Alte, das Kind, das aus dem Fenster sprang und zwischen den Spalierobstbäumen davonhuschte, wieder abgetaucht waren in den Raum ihrer Verzweigungen, still und unbekannt, an denen ich nicht mehr teilhatte.

Montag, 1. Oktober 2007

Ein Reh

Als ich einbog vom Hauptweg in den dämmrigen Seitenpfad, stakste da wenige Schritt voraus ein Reh. Es sah mich, erstarrte und fiel im Erstarren zurück ins Unüberschaubare des Pfadrains, wo es augenblicks mit Strauchwerk und Blättergewirr und den wuchernden Schatten am Weg verwuchs. Eins geworden mit dem Grün, blieb es darin unkenntlich, sonlange es nicht ein Zucken des Ohrs, eine Wendung des Kopfes, ein unsicherer Schritt wieder herauswarf und in der Bewegung vereinzelte.
Auch ich blieb still und probierte, ob es mir nicht ebenso gelänge, mit dem Holunder und den Brombeeren neben und über mir zu verwachsen. Eine Fliege kitzelte mich an der Nase. Ein Tropfen schlug mir auf die Stirn. Ich blieb ganz still, die Augen unverwandt auf die Stelle gerichtet, aus der heraus mich das Reh zweifellos scharf beobachtete, beroch, belauschte; zwar sah ich es nicht; doch spürte ich seine gesammelte Aufmerksamkeit auf mich gerichtet wie einen hellen Strom. Meine Fingerspitzen wurden taub. Ich fragte mich, ob es mich atmen höre, wie es in meiner Nase röchelte, die Jacke knisterte, wie selbst das Blut in den Adern noch zu lärmen schien. Ich kam mir sehr laut vor.
Dann, ohne daß ich mich erkennbar geregt hätte, knackte plötzlich etwas, die Farne und die Weißbuchenzweige wippten. Schatten und Lichtwirrung gerieten in Bewegung und verdichteten sich zu einem staksigen Sprung, mit dem das Tier ausbrach, aufflog, ins Dickicht stürzte und hinter zurückschlagenden Zweigen im nu verschwunden war.
Wer weiß, was es plötzlich erschreckt haben mochte, den Aufschlag von Sternenstaub, das Rascheln einer Spinne im Netz, oder einen meiner finsterlauten Gedanken.

Mittwoch, 26. September 2007

...

Froh werden an einer Busfahrt. Nicht, daß es regnet, nicht, daß die Sonne scheint, nicht, daß ein Blatt klebenbleibt auf der feuchten Scheibe, unruhig zittert, wieder abfällt und wirbelnd in die Straße zurückgesaugt wird; auch nicht die wetterfeuchten Hecken über dem Dunkel eines Bachs, die glühenden Spitzen des Grases, wie es ins Gewölk überm Feld hinüberleuchtet; oder der traurige Mund eines Jungen, vertieft in eine kiloschwere Lektüre. Froh werden, an etwas, das ein Rätsel ist, und in seiner Rätselhaftigkeit alle Vordergründe überwindet, die minutenlang anhaltende, unumstößliche Gewißheit, am Leben zu sein und in der Welt.

Sonntag, 23. September 2007

Ende des Sommers (Aequinox, ein Epigramm)

Dann aber schlugen die Glocken, so lang, daß es tönte wie Stunden,

während ein Morgen entschwand unter dem schwingenden Blau.

Noch einmal schenkt uns die Zeit einen säumigen Aufschub, als wäre

alles ein froher Beginn, was ihren Händen entfällt.

Dürr steht der Sommer am Feld, in azurene Winde gekleidet.

Morgen gibt er das Jahr, müde vom Licht, uns zurück.

Von Heiligen und Märtyrern

Über logik habe ich ja schon zweimal geschrieben (über das Hörnerproblem und das Bratwurstparadox); gestern nacht nun traf ich bei Elsa, die sich derzeit in ihrem studium der philosophie mit logik beschäftigt, auf ein problem, das mir keine ruhe ließ.

Das Problem
Wenn die Proposition „Einige Heilige waren Märtyrer“ wahr ist, was läßt sich daraus hinsichtlich der Wahrheit, Falschheit oder Unbestimmtheit der folgenden Propositionen ableiten:
1) Alle Heiligen waren Märtyrer
2) Einige Nicht-Märtyrer waren nicht Nicht-Heilige
3) Kein Nicht-Heiliger war ein Märtyrer
4) Einige Nicht-Märtyrer waren Heilige
5) Einige Märtyrer waren nicht Nicht-Heilige

Die Lösung (Vorschlag)
Zunächst: Was heißt „wahr“, „falsch“ und „unbestimmt“? Man darf hier nicht vom Alltagsgebrauch dieser Begriffe ausgehen, sondern sie sind streng logisch aufzufassen. „Wahr“ hinsichtlich der prämisse („Einige heilige waren märtyrer“) ist einer der Sätze 1–5 gdw er logisch aus der prämisse folgt, oder anders gewendet, wenn seine negation in widerspruch zur prämisse steht. „Wahr“ bedeutet nicht „möglich“ oder „widerspruchsfrei denkbar“. Ist letzteres der fall, aber die folge nicht zwingend, dann ist der satz hinsichtlich der prämisse unbestimmt. „Falsch“ ist einer der sätze 1–5 gdw seine negation aus der prämisse folgt. Und noch eine begriffsbestimmung, die vieles erleichtert: „Einige“ ist im logischen sinn verschärft zu lesen als „mindestens einer“.

Sehen wir uns jetzt die sätze im einzelnen an:
„Alle heiligen waren märtyrer“. Das ist vielleicht der einfachste fall und illustriert einen klassischen fehlschluß (und gleichzeitig das – logisch unzulässige – verfahren empirischer hypothesenbildung, aber das ist ein anderes thema). Aus „einige“ folgt niemals „alle“. Nun besteht die schwierigkeit hier zu trennen zwischen dem befund „folgt nicht“ und der feststellung „ist falsch“. Denn: angenommen 1) ist wahr: entsteht ein widerspruch zur prämisse? Nein. Also folgt 1) weder aus der prämisse, noch widerspricht 1) der prämisse, also ist 1) unbestimmt. Umgekehrt folgt die prämisse zwar aus 1), aber der umkehrschluß gilt eben nicht.

„Einige nicht-märtyrer waren nicht-heilige“. Auch dieser fall läßt sich rasch abhandeln: Da er nur von im sinne der prämisse nicht-relevanten Mengen handelt, ist er für die prämisse belanglos. Es ist schlichtweg egal, was nicht-heilige und nicht-märtyrer waren oder nicht waren. Nehmen wir an, 2) ist wahr: dann gibt es mindestens eine Person, die kein heiliger und kein märtyrer ist. Wir wollen diese person Peter nennen. Widerspricht Peters existenz der prämisse „Einige heilige waren märtyrer“? Nein, denn die aussage ist ja über heilige und märtyrer, und Peter ist weder das eine noch das andere. Folgt Peters existenz aus der prämisse? Auch nicht, denn daß es heilige gab, die märtyrer waren, läßt keinen schluß auf eventuelle nicht-heilige und ihre eigenschaften zu.

„Kein nicht-heiliger war ein märtyrer“. Hier hilft eine kleine umformulierung: 3) ist äquivalent mit dem leichter zu erfassenden „Nur heilige waren märtyrer“. Der satz folgt nicht aus der prämisse, noch steht er in widerspruch zu ihr. Denn in der prämisse wird lediglich behauptet, daß es mindestens einen heiligen gibt, der auch märtyrer war, das heißt, man kann die negation von 3) „Einige nicht-heilige waren märtyrer“ widerspruchsfrei zur prämisse denken, die nur aussagen über heilige macht. Etwas theologischer formuliert: Was einige nicht-heilige waren, ist für die heiligen nicht von belang. Ebensowenig folgt 3) aus der prämisse. Aus „einige“ folgt nicht „einige und nur diese“.
Also ist 3) hinsichtlich der prämisse unbestimmt.

„Einige nicht-märtyrer waren heilige“. Also gibt es mindestens eine person, die kein märtyrer war, aber dennoch ein heiliger. Steht diese aussage mit der beobachtung, daß einige heilige märtyrer waren, in widerspruch? Nein. Steht die negation von 4), also „kein nicht-märtyrer war ein heiliger“ in widerspruch zur prämisse? Umformulieren hilft auch hier: „Nur märtyrer waren heilige“. Das ist mit „Einige heilige waren märtyrer“ voll und ganz vereinbar. Die negation von 4) ist sogar die stärkere behauptung.
Also ist 4) hinsichtlich der prämisse unbestimmt.

„Einige märtyrer waren nicht nicht-heilige“. Dieser satz ist hinsichtlich der prämisse tatsächlich wahr, das heißt, es ist nicht möglich, daß die prämisse wahr, 5) aber falsch ist. Was heißt es nämlich, nicht ein nicht-heiliger zu sein? Es bedeutet, kein nicht-heiliger zu sein, was, zumindest in der theologisch einfacheren welt der logik, wo man immer eindeutig heilig ist oder nicht, darauf hinausläuft, ein heiliger zu sein. Also: „Einige märtyrer waren heilige“. Diese feststellung aber folgt aus „Einige heilige waren märtyrer“, denn ihrzufolge gibt es mindesten eine person, die beides war, heiliger und märtyrer. Nennen wir diese person Cecilia. Aus der existenz Ceciliens folgt nun, daß sowohl gilt, daß mindestens ein heiliger ein märtyrer war (nämlich Cecilia), als auch, daß mindestens ein märtyrer ein heiliger war (nämlich Cecilia). Wir haben also von der prämisse auf einen einzelfall geschlossen (Cecilia), und aus diesem einzelfall auf die proposition von 5). Da man immer aus einem existenzsatz einen einzelfall annehmen kann, folgt also 5) aus der prämisse.
Man kann auch den umgekehrten weg beschreiten und zeigen, daß die negation von 5) einen widerspruch zur prämisse generiert: „Nicht einige märtyrer waren nicht nicht-heilige“, was sich übersetzen läßt als „Alle (nicht einige nicht, also keine nicht, also alle) märtyrer waren nicht-heilige“. Aber es gibt doch Cecilia, heilige und märtyrerin! Also ist die negation von 5) hinsichtlich der prämisse falsch. Also ist 5) hinsichtlich der prämisse wahr.

Donnerstag, 20. September 2007

Seife essen!

Der linguistische Eiertanz, der dieser Tage um die kulturkritischen Äußerungen Kardinal Meisners gemacht wird, ist wahrlich einer totemistischen Gesellschaft würdig. Das Phänomen der Ächtung ist in den Sprachen der Welt weitverbreitet. In vielen Gesellschaften darf der Name eines Geistes oder einer Gottheit nicht ausgesprochen werden. Die Jagdsprache verdankt sich in nicht geringem Umfang der primitiven Angst, der Name eines Tieres, leichtfertig ausgesprochen, könne dieses verjagen oder anlocken. Manchmal gehen solche Tabuisierungen sogar so weit, daß nach dem Tode eines Stammeshäuptlings Wörter, die an dessen Namen erinnern, nicht mehr gebraucht werden dürfen, was unter Umständen alle paar Generationen zu einer kompletten Auswechslung des Wortschatzes führt.
Ähnliche Blüten treibt zur Zeit der sich dem Schlagwort der „political correctness“ verschriebene Massenwahn. Ich habe mal erlebt, wie in einer Mensa einer größeren deutschen Universität eine Frau sich erhob, zum Nebentisch ging und von einem der dort plaudernden jungen Männer verlangte, er solle nicht ständig „Titten“ sagen, das sei diskrimierend, sie fühle sich als Frau in ihrer Würde verletzt. Der Betroffene tat das meiner Meinung nach einzig Richtige: Eines erfolgreichen englischen Films eingedenk rief er mehrmals laut: „Titten, Titten!“. (Die Beschwerdeführerin ließ ihn durch die Aufsicht aus dem Lokal entfernen.)
Als könne man gesellschaftliche Mißstände aus der Welt schaffen, indem man bestimmte Wörter dämonisiert! Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis „Afroamerikaner“ ähnlich unfein klingen wird wie „Neger“ – oder ist es vielleicht schon so weit? Vielleicht ist es an der Zeit, nüchtern zu werden, nachzudenken, und den Schritt von der totemistischen zur aufgeklärten Gesellschaft zu wagen. Vielleicht würde man feststellen, daß es eben mehr bedarf als ein paar Sprachtabus (die sehr leicht zu erklären und einzuhalten sind, geradezu wohlfeil), eine Ungerechtigeit aus der Welt zu schaffen. Oder eine mahnende Erinnerung lebendig zu halten. Jedenfalls trägt ein Vermeiden gewisser Vokabeln herzlich wenig zu einer gerechteren Welt bei. Wie befreiend wäre es aber doch, Wörter wie das von Meisner leichtfertig gebrauchte, endlich zu entdämonisieren – sie so lange und so pervasiv zu verwenden, bis ihre schlechten Konnotationen verblaßt sind. Aber das wäre natürlich nicht im Sinne der Gralshüter des schlechten Gewissens.
Was bedeutet nun die geächtete Vokabel? Entartet adj./part. (von Art „aus der Art geschlagen; deformiert bis zu einem Punkt, da die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Genus nicht mehr erkennbar ist; typischer Genusmerkmale verlustig gegangen“ Auf Kultur angewendet also so viel wie: „einer Kultur nicht mehr hinreichend ähnlich, um noch als solche bezeichnet werden zu können.“ (Kleine Selbstanwendungskapriole: Ein Unwort wäre dann so etwas wie ein entartetes Wort.) Wenn nun jemand der Ansicht ist, etwas sei entartet oder drohe zu entarten, dann muß er das, bitteschön, auch mit dieser Vokabel sagen dürfen. (Es gibt schließlich auch entartete Materie, darüber regt sich indes niemand auf) Daran kann sich dann eine sachliche und inhaltsbezogene Diskussion des Gesagten anschließen. Was aber passiert stattdessen? Man wirft Meisner nicht vor, daß seine Äußerung Unsinn ist, sondern prangert seine Wortwahl an.
Was? Der kleine Kevin hat einen Ausdruck gebraucht? Uiuiui. Das wollen wir nicht noch einmal hören! Dat Chantal hat geflucht? Huhu, böse, böse, Seife essen! Herr Meisner hat „entartet“ gesagt? Oh oh oh, zur Strafe hundertmal schreiben: „Ich soll keine Tabuwörter benutzen.“
Mein Gott, was für ein Theater! À propos: Wie war das noch in diesem Film? Jehova, Jehova!
Da möchte man doch glatt einstimmen: Entartet, entartet!

Mittwoch, 19. September 2007

...

Hier war er zuhause, ganz: wo der regen gleichmütig fallend jedes geräusch zudeckt. Über den kaffee gebeugt lauschte er auf die kleinen abweichungen und details in der großen strömenden eintönigkeit vor dem fenster. Je länger man hinaushörte ins scheinbar gleichförmige, desto mehr einzelheiten erwuchsen dem ohr: metallisches ticken, rhythmisches klatschen, manchmal klirren wie von ketten, darunter, dazwischen, ein plätschern von bächen und rinnsalen auf asphalt oder stein, dann wieder das blubbern der regentonne, das knallen wuchtiger aufschläge auf autodächern oder wellblech, wie es scharf aus dem umgebenden klanggewoge herausbrach; ein mülltonnendeckel klickte leise, und glockenhell trafen tropfen in schneller folge aus einem überlaufrohr fallend auf ein balkongeländer.
Das alles bildete ein geflecht von wechselwirkenden stimmen, die in einem gleichgewicht zusammenkamen, dessen schwerpunkt sich immer wieder in feinsten abmessungen verschob und so mal die eine, mal die andere stimme herausstellte. Eine topographie des regens entstand im ohr, das platschen, klirren prasseln, brausen und rauschen erzeugte dem zuhörenden landschaften aus unterschiedlich nassen flächen und klangkörpern, rinnen, fließgeschwindigkeiten, wellenmustern und -linien, blasen und schaum. Ein baum wuchs da auf, vor dem fenster, aus in verschränkung einander begegnenden, in verästelungen ausgreifenden, fortstrebenden und wieder ineinander gemengten klängen, die den raum heranholten, und alles überflüssig machten, was weite, was entfernung bedeutete. Alles spielte sich hier ab, ein drama, das allein aus dem laut und leise, dem fächer und den schichtungen des klangs seine spannung und kraft bezog.
Bis die stimmen einander ablösend nacheinander verstummten, die blätter, der asphalt, später auch das ticken der regenrinne. Auf dem kopfsteinpflaster dröhnten mittlerweile wieder die reifen, Schritte hämmerten, eine Wagentür schlug. Es blieb noch das hallende gurgeln, mit dem der gully das zusammenströmende wasser aufnahm, während die wand gegenüber im hof jäh aufflammte im sonnenschein.




Montag, 17. September 2007

Semantisch

Das Wort oder der Wortbestandteil fix ist ein Ausdruck, der auf seiner Inhaltsseite das Feste, Beständige, ja Ewige – etwa eines Fixsterns –, das Verläßliche und Sichere (wie es dem Fixpunkt eignet), das Unveränderliche von Fixkosten oder auch das Unabänderliche, wie es sich in der Lage des Gemarterten am Kruzifix zeigt, mithin das Unveränderliche schlechthin als den einen Bedeutungspol mit dem Kurzzeitigen, Eilenden und Flüchtigen und damit der Ewigkeit in scharfem Gegensatz Gegenüberstehenden von Schnellgerichten (Maggi Fix), Klebefolien (d-c-fix) und Protrepsen zur Eile (Nun aber fix!) als seinem Gegenpol verbindet, zwei konträre Konzepte in einer einzigen Silbe vereint und sich damit prinzipiell selbst zu negieren im Stande wäre, wenn nicht die Distribution des Morphs als Vorderglied eines Kompositums einerseits, wo es immer in der Bedeutung „fest“ oder „starr“ Verwendung findet, und als Adverb oder Adjektiv andererseits, dann nämlich in der Bedeutung „schnell“, zur Disambiguierung taugte, und Lesarten wie „schneller Stern“ für Fixstern oder „Fixiermittel auf Suppenbasis“ für Maggi Fix verhinderte.

Montag, 10. September 2007

Keine Tränklein

die eine ist schwanger, der andere denkt, er hat, hat er aber nicht, sie weiß es besser, ein anderer will es gar nicht so genau wissen, ein dritter fürchtet sich, das dorf jagd einen fort, und so geht alles im kreis und im kreis, aber der kern, der kern bleibt weiß. ist alles ganz nett und verwinkelt und verwickelt, haut aber nicht hin. warum? weil es nicht trifft. das herz der dinge. den grund von allem. M. will J und betreibt x, und genau damit verliert sie ihn. wie genau?
das problem: eine zwickmühle zu konstruieren, die sich erst im nachhinein als zwickmühle zu erkennen gibt. eine falle. ein klassisches dilemma. gleichzeitig: plausibilität, und nicht wieder liebestränklein und ähnliches ins spiel bringen.


Freitag, 7. September 2007

Zwischendrin

Es ist eine Zwischenzeit, diese Wochen zwischen Sommer und Herbst, in keiner Jahreszeit daheim, in keinem Namen. Nicht hier, nicht dort, nicht woanders und doch: weit weg. Der Holunder, die Birke, der Hasel, alles grün, als riefen sie einander zu, diesmal, diesmal schaffen wir es. Dabei knirschen schon wieder die Nüsse aufspringend unter den Autoreifen, wackeln die Firste in den gefüllten Wassertonnen. Nichts hält einen drinnen, aber wie soll man das nennen, was einen hinaustreibt, und was für eine Farbe zieht man dazu an? Niemandszeit, ein Asyl, schiffbrüchige Stunden. Der Zeitungsleser blickt auf die Terrasse, wo zwei Elstern Sommer spielen. Etwas hat uns entlassen in Tage des Überschusses, denkt er, Überschusses an Zeit.




VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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