Freitag, 8. Februar 2008

...

Ein Haus steht in Flammen, neun Menschen sterben. Na, und? möchte man mit der Schulter zucken. Zum Vergleich: im Jahr 2006 starben auf Deutschlands Straßen 5316 Menschen bei Unfällen. Das sind 14 Menschen täglich. Jeden Tag ein zweites Ludwigshafen. Wen kümmert’s? Es ist in den letzten Tagen so viel vom Mittrauern die Rede gewesen. Warum trauert keiner mit den 14 Verkehrstoten täglich mit? Die Wahrheit ist doch: Gestorben wird landauf landab, haufenweise in jeder Stunde, und wer da überall eine Betroffenheitsmiene ziehen und mittrauern wollte, ach herr je!, der käme aus dem Trauern und Mieneziehen gar nicht mehr heraus.
Der Verdacht liegt nahe, daß man sich daher lieber bescheiden gibt und realistisch bleibt und das Mittrauern auf einige besonders schöne Fälle des Sterbens beschränkt. Natürlich die, von denen man überhaupt Kunde hat, weil die Kamera dabei war. Hilfreich ist da wohl auch, wenn gleich mehrfach auf einmal gestorben wird, erstens, weil sich die Mittrauer besser konzentrieren kann, zweitens, weil es einfach mehr hermacht, als so kleckerlesweise hier und da über die Autobahnen der Republik verstreut. Und drittens ist so ein Autounfall doch ziemlich banal, das kennen wir schon, wir haben uns ans Sterben auf der Autobahn gewöhnt, wie langweilig. Aber ein Wohnungsbrand, zudem, wenn die Zeitungen bei einem kleinen Feuerchen schon das Wort „Katastrophe“ bemühen – uiuiui, das ist schon was anderes als ein bißchen Reifenquietschen.
Zudem weiß man ja, daß alle anderen auch davon gehört haben und mittrauern. Und in der Gemeinschaft trauert’s sich einfach schöner. Das hat etwas geradezu Anheimelndes. Man kann auch eine Kerze solidarisch ins Fenster stellen. Hach!
Aber wie sehr ich auch in mich hineinhorche: So recht will mir bei solchen Anlässen das Trauern nicht gelingen. Die Verstorbenen sind mir fremd und bleiben mir fremd, und hätte ich von ihrem Tod nicht in der Zeitung gelesen: Ich würde den Unterschied gar nicht bemerken! Dieses kollektive Getrauere – manchmal kommt es mir gar ein bißchen verordnet vor.
Aber ob die Mittrauer nun echt ist oder nicht: Jedenfalls scheint mir das alles doch den Verdacht des Unverhältnismäßigen nicht so einfach abstreifen zu können. Daß etwa kein geringerer als der türkische Ministerpräsident eigens angereist kommt, um in Ludwigshafen nach dem rechten zu sehen, mag man als ein Musterbeispiel der fürsorglichen Anteilnahme eines Staatschefs für seine Bürger loben – verhältnismäßig ist es nicht.
Der Gipfel des Unverhältnismäßigen aber ist das Brimborium, das über die Herkunft der Bewohner fraglichen Mietshauses gemacht wird. Es ist ganz einfach egal, ob sich in dem fraglichen Gebäude nun Maori, Schwaben oder Eskimos aufgehalten haben. Tot ist tot. Wenn es ein Verbrechen war, wird man das herausfinden, es wird eine Untersuchung geben, der oder die Täter werden gefaßt werden. Punkt. Alles weitere ist einfach nur belanglos.
Und muß auch belanglos sein. Eine aufgeklärte Gesellschaft würde die üblichen Mittel der Strafverfolgung einsetzen, ohne Ansehen der Herkunft der Opfer; eine aufgeklärte Gesellschaft würde über politische Konsequenzen erst dann zu sprechen beginnen, wenn sich die Tat tatsächlich als fremdenfeindlich erwiesen hat, vorher nicht; eine aufgeklärte Gesellschaft käme zuallerletzt auf den Gedanken, es könne sich um einen fremdenfeindlich motivierten Anschlag handeln. Ganz einfach, weil ihr ein solcher Gedanke fernläge. Offenbar liegt ihr ein solcher Gedanke aber nicht fern, so wie der Sünder die eigene Sünde bei den anderen immer zuerst vermutet. So leistet jedes weitere Wort dem Verdacht Vorschub. Möge jeder seine eigenen Schlüsse daraus ziehen.
Und trauern.
tinius - 8. Feb, 13:14

Ich sehe einen Unterschied zwischen "verordnet" und "behauptet". Das klingt so wie diese Werbesprüche "Ganz Deutschland freut sich auf das Konzert von - oder das neue Modell von...". Es mag wirkliche Trauer im engsten Umfeld der Opfer geben, auch auf deutscher Seite, zumeist aber handelt es sich eher um eine Art Betroffenheit aus vielfältigen Motiven, worunter auch der durchaus verständliche Schock über die Endlichkeit des Lebens und die Unmittelbarkeit von Katastrophen zu finden wäre. In der Regel kann man davon ausgehen, daß, wenn man den Satzbeginn "Ganz Deutschland..." bzw, "Ganz Ludwigshafen..." hört, es sich dabei allenfalls um eine exemplarisch überhöhte Minderheit handelt.

arboretum - 8. Feb, 20:38

Daß etwa kein geringerer als der türkische Ministerpräsident eigens angereist kommt, um in Ludwigshafen nach dem rechten zu sehen, mag man als ein Musterbeispiel der fürsorglichen Anteilnahme eines Staatschefs für seine Bürger loben – verhältnismäßig ist es nicht.

Der Besuch von Erdogan war schon länger geplant, er hat nur einen Umweg über Ludwigshafen gemacht. Was angesichts der Berichterstattung in türkischen Medien vielleicht auch ganz sinnvoll war, denn die hat er bei der Gelegenheit auch noch gleich aufgefordert, mal halblang zu machen. Deren Tatsachenbehauptungen dürfte nicht zur Entspannung der Situation beigetragen haben. Noch mehr angespuckte oder verprügelte Feuerwehrleute braucht's wirklich nicht. Der Verband der Aleviten wehrt sich auch schon heftig dagegen, von den türkischen Medien auf diese Weise vereinnahmt zu werden.

Talakallea Thymon - 11. Feb, 12:36

das hab ich dann später am tage auch noch begriffen, als mir zum ersten mal die riesigen werbetafeln mit Erdogans konterfei und irgendwelchen aussagen über europäische türkenherzen, die in deutschland schlagen oder so ähnlich, zu bewußtsein gekommen waren.
_vel - 8. Feb, 22:12

okay, ich nehme an, du hast nicht unbedingt lust, den landesfernen unter den bloggern kurz zu erzählen, was genau sich in l'hafen abgespielt hat.. ich reime mir zusammen, was ich aus deinem text ziehen kann.

gegenposition beziehend, wie ich es ja meistens tue (aber immer nur dann, wenn ich dem gesagten tatsächlich noch etwas hinzuzufügen hab), möchte ich anmerken, dass es zudem noch möglich ist, echte trauer zu empfinden angesichts eines ereignisses, von dem man ohne "die medien" überhaupt nie erfahren hätte, weil es rein gar nichts mit einem selbst zu tun hat.

ganz genauso könnte man hergehen und sagen seht, trauernde; ihr heult jetzt um irgendwelche familienmitglieder, aber in wirklichkeit findet ihr doch euer eigenes leid, euer jetztwiederalleinesein, noch am allerschlimmsten.

angesichts solch kollektiver heuchelei auf den friedhöfen ziehe ich doch meinen hut in einer schweigeminute vor menschen, denen bloße fernsehberichterstattung noch lange kein grund ist, das menschliche mitgefühl zu verweigern.

Talakallea Thymon - 11. Feb, 12:48

nicht das verweigern von mitgefühl wegen der berichterstattung, natürlich nicht. aber du sprichst das wort aus, das ich in meinem text dann doch wieder gestrichen hatte, nämlich "heuchelei": was mich an diesem beispiel der berichterstattung so aufbringt, ist eben gerade, daß es nicht ehrlich ist. so wurden etwa in L'hafen sämtliche karnevalistischen veranstaltungen abgesagt. ich kann beim besten willen nicht nachvollziehen, wieso. das heißt, ich kann es nachvollziehen, aber im selben nachvollzug kann ich dann umgekehrt nicht begreifen, wie man in dieser grauenvollen welt überhaupt noch lachen, feiern und fröhlich sein kann. entweder -- oder. man muß, um das heulen und zähneklappern zu kriegen, nicht erst darauf warten, daß die medien in ihrer verdammenswerten willkür ein ereignis herausklauben und hochkochen. und was mich noch mehr aufbringt, denn die medien sind ja nichts ohne publikum, ist, daß dann alle ohne sinn und verstand ins große jammern mit einstimmen, als würde es, ja, verflixt, als würde es ein merkwürdiges vergnügen bereiten.
_vel - 11. Feb, 16:35

mit entweder-oder kommt man meines erachtens nicht weit in der realität.
karneval absagen (und nochmal: ich spreche hier über ein ereignis, von dem ich nur aus deinem text hier erfahren habe) ist natürlich ein repräsentativer akt (und damit nicht ehrlich, da stimme ich dir zu. allerdings stellt sich auch die frage, inwieweit repräsentanten "ehrlich" sein können - sie haben ja eine funktion inne und dieser entsprechend ist es ihnen aufgetragen zu handeln).
und klar wollen die leute ja auch jammern, es ist eine form von unterhaltung - stichwort sensationsgeilheit (huh, das hab ich noch nie benutzt).

wogegen ich mich wende, ist
"entweder-oder": du musst nicht wegen allem heulen, was in den nachrichten kommt (besonders nicht, wenn es dich nicht berührt), aber es ist deshalb noch lange nicht richtig, gefühle generell abzuschalten, wenn etwas lang und breit in den medien kommt (was ich dir nicht unterstellt haben wollte).
die gefahr sehe ich, wenn menschen anfangen mit zahlen zu argumentieren. der tod von 2 menschen ist nicht "schlimmer" als der tod von 2000, und vice versa. ob die toten menschen sind, die du kennst oder menschen, von denen du nichtmal die namen weißt, ist ebenfalls kein schlimmheitskriterium.

ich hoffe jedenfalls, du gehörst nicht zu den menschen, die mit den augen rollen, wenn noch ein bericht und noch einer gezeigt wird auf den programmen. die toten sind tote, egal was aus ihrem tod gemacht wird.
Talakallea Thymon - 11. Feb, 20:19

entweder-oder bedeutet: konsequent sein. und genau diese ewigen akte des repräsentativen und symbolischen habe ich satt (siehe mein eintrag zum welttag gegen den lärm und gegen welttage im allgemeinen). deswegen rolle ich tatsächlich mit den augen: nicht etwa, weil ich keine achtung vor den toten und den gefühlen der hinterbliebenen habe; sondern weil es mich graust angesichts der oberflächlichkeit und der hysterie und: angesichts der völlig willkürlichen aufmerksamkeitszumessung. nicht mit zahlen argumentieren, warnst du. da hast du recht. aber auch nicht sich hinreißen lassen von televisionären bildern, die die wirklichkeit verzerren. der L'hafener brand (fast hätte ich selber "katastrophe" geschrieben) ist eben nicht schlimmer als ein verkehrsunfall (oder umgekehrt, der verkehrsunfall genauso schlimm) -- nur haben wir uns an letzteren -- und das ist das wirklich schlimme -- gewöhnt. zahlen können einem angesichts von suggestiven bildern und ebenso suggestiven begrifflichkeiten ("katastrophe") die wirklichkeit in einer nüchterneren weise vor augen führen ... und so manches schiefe bild wieder gerade rücken. das gilt auch für alle sogenannten bedrohungen und gefahren, und es gilt für alle gestrandeten wale und Knuts dieser welt.

_vel - 12. Feb, 02:43

entweder-oder bedeutet: sich etwas vormachen. schade, dass du mit den augen rollst.

willkürlich ist die aufmerksamkeitszumessung ganz sicher nicht, denn man weiß ja bspw, aus welchen ländern neuigkeiten interessant sind (für deutsche, für amerikaner, für iraner, ..) und aus welchen nicht. dann gibt es zeiten, da liest man lieber von celebrity-schwangerschaften als von kindesmissbrauch. oder man sieht sich lieber talibanische bärte in den news an als - achtung - naturkatastrophen.

"medien" und "wirklichkeit" ist schließlich die frage nach macht und interessen schlechthin. welche der wirklichkeiten möchtest du denn abgebildet wissen?

die zahlen jedenfalls, könnte ich genauso kommen, wieviel (!) mehr haben die denn mit wirklichkeit zu tun als bilder? zahlen sind keinesfalls nüchterner, bloß weil sie nicht bunt sind. statistik ist eines der wirksamsten machtinstrumente in der meinungsmache (und ich glaube, dieses thema hatten wir auch schonmal irgendwo anders).

ps. knut ist ein eisbär. da stimme ich dir zu.
pps. schiefes bild gerade rücken - es gibt nicht "die medien", es gibt nicht "die wirklichkeit"!
ppps. ich habe mich keineswegs an verkehrsunfälle gewöhnt und kenne zumindest ein paar vereinzelte menschen, denen es genauso geht.
Talakallea Thymon - 12. Feb, 09:48

natürlich gibt es die wirklichkeit -- worüber könnten wir sonst reden? und das ist es ja gerade, mein anliegen: von den individuellen wahrnehmungen absehen, um zu einem gemeinsamen kern vorzudringen.

zahlen, im gegensatz zu wahrnehmungen und gefühlen, sind vergleichbar, aber das war gar nicht, worauf ich hinauswollte, falls das ein mißverständnis ist. jedes relativieren liegt mir fern, im gegenteil. nur das gewäsch, das seichte, das gefühlsduselige, und das nachplappern, das prangere ich an und werde ich nicht müde, anzuprangern.

was aber die statistik angeht: sie lügt nicht. wenn man sie zu lesen versteht. die manipulative wirkung besteht darin, daß die, die sie zu lesen verstehen, denen etwas vormachen können, die statistische aussagen in ihrem wert oder unwert nicht erkennen können. zumeist sagen statistiken sehr viel weniger als ihre ersteller einem weismachen wollen.

aber das nur nebenbei, denn: ging es um statistik? nein. es ging mir darum, daß, folgt man den medien und nimmt ihre aufmerksamkeitszumessungen zum maßstab, der eine tod schrecklicher ist als der andere.

an verkehrsunfälle hast du dich nicht gewöhnt und ich auch nicht, aber die medien und diejenigen, die sich über den nächsten verkehrstoten nur langweilen und für die es schon ein hausbrand sein muß, damit sie sich amüsieren: die scheinen sich so sehr damit abgefunden zu haben, daß sie jedes klagen eingestellt haben. außerdem müßten sie ja, wollten sie eine radikale verminderung dieser gräßlichen unfälle fordern, bei sich selbst und ihrem eigenen hochgefährlichen fahrbaren untersatz anfangen.

daß zu beginn einer berichterstattung nicht absehbar ist, zu welcher wichtigkeit sich das berichtete noch auswachsen wird, gebe ich zu. aber dann wäre ja andererseits alles gleich wichtig, am anfang. aber danach werden nachrichten nicht ausgewählt oder breitgetreten. sondern nach ein ein paar möglichst gräßlichen bildern.

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