Freitag, 11. April 2008

... wird Sturm ernten

Habe heute früh die Glühbirne ganz herausgedreht.
Meine Hofnachbarn gegenüber, zwei junge Frauen anfang zwanzig, haben zwei störende Angewohnheiten. Erstens pflegen sie beim Fortgehen wie beim Nachhausekommen lautstark miteinander zu palavern (wobei man sich fragen muß, was man noch zu besprechen hat, wenn man zusammen wohnt, zusammen weggeht, zusammen wiederkommt, zusammen studiert, und, wie mein Mitbewohner zuverlässig berichtet, selbst den Einkauf von Schreibwaren gemeinsam erledigt), währenddessen mit den Fahrrädern zu klappern und mit einer Kunststoffpersenning zu rascheln, ungeachtet der abendlichen, nächtlichen oder auch frühmorgendlichen Uhrzeit. Zweitens: Sie lassen abends über der Eingangstür das Licht brennen. Da mein Schlafzimmerfenster auf den Hof hinausgeht, den zum einen die Lampe taghell und bis ins Zimmer hinein ausleuchtet, wo zum anderen jedes auch nur zaghafte Geräusch widerhallend verstärkt wird wie in einem Kirchenraum oder einem Kellergewölbe, finde ich diese beiden Angewohnheiten derart gräßlich, daß ich mich seit einiger Zeit wenigstens des Lichteinfalls durch eine entschiedene Maßnahme erwehre, indem ich nämlich das Gehäuse der Lampe auf- und die Glühbirne gerade so weit herausschraube, daß sie keinen elektrischen Kontakt mehr hat. Gegen Palaver, Fahrradklappern, Persenningrascheln kann ich nichts tun.
Heute nacht war es vier Uhr. Morgens.
Ich wurde von den Stimmen wach, vom bekannten Klappern, hörte, wie die eine ausrief, oh Mann, das Licht ist aus, da sieht man ja gar nichts, dann mehr Fahrradklappern, das Geräusch des Ständers, das Rascheln der Persenning, und das alles in einer Lautstärke, die nicht die geringste Vorsicht oder Rücksicht erkennen ließ, dann hörte man ein Schrauben, und das Licht ging wieder an. Die Tür fiel ins Schloß, Schlüsselklirren zweimal, dann Stille. Irgendwo gurgelte eine Toilettenspülung. Der Hof taghell, die Zeit: 4:03. Sie hatten es einfach angelassen! Brauchten es nicht mehr, waren ja zurück, und ließen es brennen! Was glauben die eigentlich, warum ich die Birne rausdrehe, zur eigenen Recreation des Gemüths?
Habe heute früh, im Morgengrauen, kurz nach sechs, die Birne ganz herausgedreht und an mich genommen. Wer Wind sät ...

...

Rosalie-leuchtend

Donnerstag, 10. April 2008

Erzählen

Oft habe ich Ransmayr bewundert für diese verblüffend gelassene art, etwas zu erzählen, ohne es zu erzählen. Immer wieder zurückblättern, innehalten, austreten aus dem sprachstrom und mich fragen: Wie sind wir jetzt hierher gekommen? Wie ist es möglich, daß hier erzählung stattfindet, zwischen den sätzen, sozusagen, und kein einziges mal mit diesem gruseligen, von mir so verachteten und doch immer wieder sich einschleichenden, scheinbar unvermeidlichen hinweis darauf, daß erzählt wird. Bei mir schreit jedes wort laut heraus, daß es erzählung sei. Ich bin als erzähler allzu präsent, meistens in beschämender weise, als hätte ich in einem flüsterleisen kirchenraum plötzlich mit lauter und zugleich unsicherer stimme falsch zu singen begonnen. Bei Ransmayr nichts davon, die erzählung geschieht, sie spricht nicht, sie spricht sich nicht aus. Auf einmal sind wir in Irland, auf Horse Island, in Sechuan, im Eis, ohne je – kein „und dann zogen wir drei tage gen Sechuan“ oder ähnlicher quatsch – geführt worden zu sein, ohne erklärungen aus dem off (obwohl fast alles aus dem off ist), alles nebenbei (aber woneben eigentlich?), ohne eröffnung, ankündigung, einleitung, jedes setting wie aus sich selbst geboren, und erst im nachhinein stellt man fest, man ist ja mittendrin! Wie aber aus den einzelnen, für sich völlig unauffälligen (sieht man von ihrem geschliffenen glanz ab) sätzen die erzählung entsteht, bleibt ein geheimnis, und auch zurückblättern enthüllt es nicht. In geradezu beängstigender weise ist hier das ganze mehr, weit mehr, als die summe seiner teile.

Mittwoch, 9. April 2008

Cafeteria

Ich starrte ihr unter den Maskenrand, länger als es schicklich war, fing einen Blick von ihr auf, der mich schmerzvoll an jenen amüsierten Mut-em-Enets oder Astartes erinnerte, den sie mir damals in der Straßenbahn nicht zugeworfen hatte, senkte rasch die Augen und starrte auf den weißgrellen Sonnenfleck auf dem PVC, wie er sich langsam vorschob und dabei eiförmig zerfloß. Die Tüte mit Eßbarem knisterte, die Füße der Frau scharrten, Lederknarren und ein leises, mit äußerster Zurückhaltung nicht mehr unterdrückbares Räuspern war zu hören, das unter dem Dämpfer der Maske beinahe melodiös klang, jedenfalls nicht krank. Eine Fliege landete vor mir auf dem Tisch. Ich erschrak: Wie lange war es her, daß ich keine Fliege mehr gesehen hatte? Ein merkwürdiger zweiter Schrecken floß aus der Frage, wie es wohl kam, daß die Fliegen rar geworden waren – oder wurde ich allmählich verrückt? Wie still dieses dunkel schimmernde, von fahlgrauem Pelz spärlich bedeckte Insekt dasaß … was geht wohl im Nervengeflecht eines solchen Tiers vor sich, während es scheinbar teilnahms-, jedenfalls der Anschauung nach bewegungslos dasaß? Träumte es? Dachte es? Und was waren das wohl für Gedanken? Langweilte es sich vielleicht? Jetzt hob es eines seiner dornigen, wie mit Widerhaken besetzten Beinchen, das linke des ersten Beinpaars. Sah es mich an? Schimmerte mein Abbild da drin in den irisierenden Schleifflächen der gut zwei Drittel des Kopfsegments ausmachenden Augen? Ich beugte mich und ging in die Hocke, bis meine Nasenspitze die Tischfläche berührte. Im aus den Neonröhren schleichenden Licht warfen die Fliegenbeine allerfeinste Schatten auf die Resopalplatte. Der Pelz aus feinem Haar bedeckte den Körper nicht gleichmäßig, das meiste davon bildete eine Art von Stola oder Schal um die Fugen zwischen Kopf- und Brustsegment. Vereinzelte Büschel aber staken auch auf dem rundlichen Hinterleib, als litte das Insekt an einer Art Arthropoden-Alopezie. Auf der Unterseite dieses von bogenförmigen Versteifungen geteilten Segments wölbte sich etwas wie eine Tasche oder ein Beutel, eine knollenförmige, dunkle Ausbuchtung, die, so weit ich das mit bloßem Auge erkennen konnte, von einem krustigen Schorf bedeckt war. War das Wesen krank? Nährte es da einen Parasiten, ein Nest aus Würmern, oder war es einfach nur Schmutz? Aus einer Verletzung ausgetretenes, geronnenes, die Wunde schützendes Sekret? Oder trug es darin Eier mit sich herum? Ob so ein Tier auch die Verzweiflung spürte, fragte ich mich plötzlich, angesichts einer solchen Cafeteria, der Flecke auf dem Boden, der Frau mit den Gurkenbrüsten gegenüber, dem schorfigen Gebilde unter dem eigenen Bauch? Das abgespreizte Bein zitterte ein wenig. Es zeigte, wie ich da vor dem Tisch hockte, genau auf mich. Et tu Brute! schien es zu sagen. Plötzlich wandte die Fliege sich in einer zuckenden Bewegung um, als sei sie brüskiert, machte einen Sechsschritt und erhob sich im nächsten Augenblick in die Luft, wo sie sich beim Wechsel aus dem Schatten in die Fensterhelle von einem dunklen Punkt in einen Leuchtstreif verwandelte, und gleichsam durchstrahlt in der sonnenhelle Tiefe der Cafeteria verglomm.

Sonntag, 6. April 2008

22:09

manchmal wird es so sein: man kommt nach hause, man sitzt im schein der lampe, man hört musik, man war im wald gewesen.
manchmal vermißt man, und man glaubt es sich selbst nicht, das buch fällt zu, man glaubt es nicht, den verblüfften finger in den seiten starrt man von weitem ins nahe geleuchtete fenster, und in die gegeneinander gelehnten flächen dahinter, und man ist schon ziemlich fassungslos, vermissen? fragt man, vermissen? droben am berg gongt die längste zeit der kirchenschlag.
an die grenzen gestellt, unter den scheren der straßenlaternen, tick tick tick geht die blindenampel, aber nicht das war es, das man suchte. aber was und wo? tatsachen, fakten, blinken, rotes ampellicht. städtische nachtkerzen, geflacker, geheul. irgendwo das eigene, die wände, eine küche, die von ihren spiegelungen begrenzt wird, vermissen? fragt man.
während ein einsamer einen brief schreibt. während ein jüngling eine treppe zum letzten mal hinuntersteigt. während eine tür über ein hell aufflammendes schluchzen fällt und den laut in seinem verlaufe weggknickt und abschlägt; während die blätter über den straßenlaternen stillstehen; zwei uhr nachts, drei uhr nachts und kein hauch. ein motor erstirbt in der ferne, eine nachtigall. oder irgendso ein vogel, dessen namen einem im unpassendsten moment einfällt. ein rotkehlchen. ein gimpel. pyrrhula pyrrhula.
die tür fällt der geschichte ins schloß. ein augenpaar sagt, alles in ordnung, monate später, wieder eine ampel, grün genug für ein mach’s gut komm nie mehr wieder, nicht rot genug für eine berührung, oder war es der frühling.
heimkehren. aus der stimme entlassen. die stadt, die stadt ist dieselbe. aber ich nicht, oder umgekehrt. ich fahre, ich vermisse. verschwiegene syntax ohne pronomen. vermissen, verlangen, vergessen.
kreuzungen in rot, tick tick tick. phasenversetzt reihum, tick tick. tick tick. hier oder hier, jeder ort seine geschichte, meine geschichte, palimpsest der erinnerung, zeichen, die einander durchdringen, durchwachsen und schließlich zu neuen zeichen verschlingen, und irgendwann, in der Stadt der Städte, am ende des jahrtausends oder sonstwo, wird man das vermissen selbst noch vermissen lernen.

Freitag, 4. April 2008

...

Beim Aufschlagen der Zeitung fragte ich mich plötzlich etwas Merkwürdiges, nämlich, Wieviele, murmelte ich und nahm einen Schluck kaltgewordenen Kaffees, der ebenso schal schmeckte wie der Himmel draußen trübe war, Wieviele Menschen würden wohl von 100 km Ethanol-Getreide satt?

Donnerstag, 3. April 2008

7 uhr morgens

Versuchte, die anflutende traurigkeit zurückzustemmen, der verzweiflung herr zu werden, die wieder …
sieben uhr morgens, und das licht in ringen über den tischen … chromstangen, müdes gebäck … zermürbtes schlaffes zuckerbröselndes gebäck, ein pvc-boden, der längst über all den Schuhzumutungen resigniert zu haben schien. vorsichtig aufgetreten, fast die schuhe ausgezogen. eingetrocknete kaffeespritzer, wer konnte sich das leisten, heutzutage, kaffee einfach so zu verschütten, in einer großartig verschwenderischen geste des mißgeschicks, wer konnte sich denn mißgeschicke überhaupt noch leisten? kannte so manchen, der sich nicht schämen würde, mit der zunge am boden entlangzuschlürfen, bis das letzte restchen kaffeefeuchte aufgesogen wäre und nur noch speichelfeuchte auf den pvc glänzen würde … wie konnte es mit uns dazu kommen. daß niemand etwas sagen würde, ja, daß allenfalls die unglaubliche verschwendung, das unzeitgemäße mißgeschick und dann: die versäumte reue, die unterlassene zunge-auf-pvc mißbilligende blicke auf sich zöge …
Gegenüber eine junge frau in bronzefarbenen kleidern, die dokumentierten, wie gesund und sozialverträglich sie sich ernährte, stopfte sich mit halb abgewandtem kopf aus der tüte etwas zweifellos ungesundes in den mund, während die augen hinter ihrer butterbraunen, stirn- und schläfenpartie betont ausbauenden maske argwöhnisch hin und her gingen wie von einem pickenden sperling …
sah, wie kleine krümel ihr über und zwischen die brüste, und kämpfte wieder mit den tränen.

Föhren

Geträumt von einer Föhre mit vor Dunkelheit oder schwindendem Licht bläulich schimmernden Schirm. Die einzelnen Nadel- und Astschichten voneinander zapfenähnlich abgesetzt, darunter, zwischen den Spitzen der Zweige und dem Stamm, eine merkwürdige Art glänzender Leere. Ein Weg liegt dort dunkel, fällt in die Tiefe, während weiter fort, fern, sich eine schlichte Helligkeit hebt; und zuletzt, vielleicht schon beim Erwachen, von diesen Bäumen mehrere, viele, Schirm über Schirm, ein Wald, und ein Wald, der schwebt, wie Bojen auf einer leisen, unsichtbaren Dünung, Zapfen und Säulen, die auf- und niedersteigen, dunkelschimmernde Ballons, Raumschiffe oder Iptamena Dendra die fliegenden Bäume.

Donnerstag, 27. März 2008

Nochmal Wut

Wieder die Wut. Bei Schneetreiben (die Flocken erst hart und trocken von Gemütz und Gejack springend, später naßklatschig und durchaus ekelhaft überall anhaftend) und viel Wind, der kurioserweise an jedem beliebigen Punkt meines Rundweges von vorn kam, eine Stunde lang durch den Wald gelaufen, immer mal wieder brüllend vor Zorn und, wenn’s mit dem Geflock gar zu arg wurde, mit fuchtelnden, quixotesquen Abwehrbewegungen des Armes und der Hände dahinstolpernd.
Wer da behauptet, der Ausdauerdisport sei gut für die Psychohygiene, weiß einfach nicht, wovon er redet.

Donnerstag, 20. März 2008

Musiktraum

Wieder ein Musiktraum:
Konzertante Aufführung einer Oper. Drei Mezzosopranistinnen oder Altistinnen, auf etwas wie Thronsesseln sitzend, auf einer Bühne, sehr nah; die Gesichter geschminkt und bleich unter Perücken; sie sitzen seltsam starr; die Münder klappen puppenhaft auf und zu, während ihr Gesang den Raum füllt und sich, in den Terzen und Sexten, zu leuchtscharfen, beinah schrillen Schwebungen überlagert. Jemand findet das unangenehm, ebenso wie ihr rhythmisches, stark schwingendes Vibrato. Ich aber bin fasziniert und jubele innerlich, wenngleich ich verstehen kann, daß jemand diesen Klangeindruck als schwierig empfinden mag.

Montag, 17. März 2008

...

Deutlicher als jemals bin ich heute abend der Überzeugung, daß mein äußerlich so geruhsam-normales Leben eine nur mit äußerster Anstrengung aufrechterhaltene Routine ist. Eine kleine Störung, eine winzige Änderung der Balance, eine minimale Anforderung mehr, etwas Unvorhergesehenes ‒ und aus ist es mit dem Gleichgewicht.
Hatte gerade den wohl schlimmsten Wutanfalls meines Lebens.
Stocherte zuerst mißmutig im Blech herum, merkte, das funktioniert so nicht, und dann war es auch schon passiert. Krallte plötzlich meine Finger in das Gebrösel der mißlungenen Muffins, quetschte es zu Brei, warf es durch die Küche, ließ das Messer hinterherfliegen, donnerte Türen zu, heulte tobte schrie, schlug mit der Faust gegen die Wände, warf Schuhe durchs Zimmer, schlug die letzte noch offene Tür zu, daß der Schlüssel herausklirrte, und vergrub dann endlich mein Gesicht im Kissen und brüllte und schluchzte, die Fäuste ins den Stoff gekrampft, die Tritte in die Luft gegen den imaginären Feind von Mal zu mal schwächer.
Ich kann nur froh sein, daß nichts wirklich Wichtiges zu Bruch gegangen ist. Ich vermute, es ging dabei nicht um die mißlungenen Muffins. Aber worum ging es?
Müde jetzt. Ich geh dann mal schlafen. Gute nacht.

Sonntag, 16. März 2008

Puzzle

Manchmal ermüdete ihn das Puzzle. Er starrte auf die Teile in seiner Hand, wütend. Plötzlich stimmte nichts mehr zusammen, die eben noch gefügt geglaubte, mühsam rekonstruierte Landschaft zerbrach wieder, das Meer bekam Risse, der Himmel zerflog, er konnte von vorne beginnen; dann verlor er die Geduld, die Knie begannen vom langen Hocken zu schmerzen, das Handtuch auf den Schultern war warmgeworden. Er warf die Teile, die er wie im Krampf zuletzt in den Fäusten gehalten hatte, fort, verzog das Gesicht und rieb sich die Augen, bis er Sterne sah. Dann erhob er sich, schwankte ins Bad, tränkte das Tuch mit frischem Wasser und wischte sich damit den fettigen Schweiß von Gesicht und Brust. Solcherart erfrischt und leicht fröstelnd holte er den Karton, den einzigen, der nicht verstaubt war, vom Schrank, und legte sich, das Handtuch auf der Brust, ins Bett, wo er mit klopfendem Herzen den Deckel hob und mit spitzen Fingern in die Schichten aus Photographien hineinzupfte.
Nur von E. hatte er keine Photographie. Vielleicht war sie ihm heilig gewesen, unantastbar für den Finger des Blitzlichtes.





Freitag, 29. Februar 2008

Die Stadt: Briefe. An C.

„Diese Durchschaubarkeit“, schrieb ich damals aus der Stadt an C. (und wie so vieles, was ich damals schrieb, ohne es je abzuschicken, war es genausogut an mich selbst gerichtet), „Diese Durchsichtigkeit. Das erschreckt mich. Ich will auf keinen Fall selbst– im Grunde geht es darum, mich so zu unterscheiden, daß kein Angriff mehr auf mich möglich ist. Ich bin ständig bemüht, keine Angriffsfläche für eine mögliche Karikatur zu bieten. Womit erreicht man das? Durch Einzigartigkeit. Wer sich in eine Schublade einordnen läßt, ist karikaturfähig. Und ich sehe im Grunde nur Karikaturfähige um mich herum. Selbst die, die es – unter verschiedenen Blickwinkeln gesehen – nach ganz oben geschafft haben: Professoren, Top-Manager, erfolgreiche Wissenschaftler, erfolgreiche Künstler. Noch viel mehr erfolglose. Selbst Dein Literat mit Lederjacke, der nicht wußte, was ein Schein ist, ist eine Karikatur, wenn man mit dem entsprechend geneigten Auge auf ihn blickt. Oder, und Du spottetest ja selbst, die Frau M. A., die schrieb, „ein Honorar könne man leider nicht gewähren“.

Ist das schon paranoid? Oder sind das die biergetränkten Nachtgedanken eines alternden Junggesellen, der sein Scheitern als philosophisches Dilemma verkauft? Aber zurück zur Frage.

Wofür sind wir aufgebrochen? Denn ein Aufbruch war es. Für mich jedenfalls. Lange habe ich darüber nachgedacht, was uns (nicht nur Dich und mich, sondern all die anderen, Frank, Philipp, Ruth, Kristina, …) damals angetrieben hat, wovon wir nicht nur geträumt, sondern was wir in die Hand hatten nehmen wollen, als unser. Ich wollte darüber ein Buch schreiben, eine lange Erzählung, eine Richtigstellung, ein Schlag ins Gesicht all derer, die behaupten die „Generation der heute 35jährigen“, so war die Formulierung, die mich einmal maßlos in Rage versetzt hat, uns also, schon verstanden zu haben. (Nichts haben sie verstanden!) Bis ich darauf kam, daß ich diese Frage nur für mich beantworten kann. Ich weiß nicht, was die anderen wollten. Ich weiß ja kaum, was ich selbst wollte. (Übrigens war Frank einer, den ich bewunderte. Seine Intelligenz. Seinen Stil. Seinen Überblick. Das Unbeirrbare. Seine Hingabe. In der Nacht vor der ZP noch einmal Wittgensteins Tractatus durchlesen! Sogar seine Ausweisung aus den USA habe ich bewundert. Einer der ganz wenigen. Es war eben seine Sache nicht, den Brocken, den man ihm großzügig hinwarf, zu schlucken, jedenfalls nicht unter jeder Bedingung, und dann auch noch dankbar zu schwänzeln. Aber das nur nebenbei.)



Montag, 25. Februar 2008

Die Stadt: Die Stadt

Der Fluß zog mich an. Immer wieder nahm ich den tropfnassen Pfad und stieg ans Ufer hinunter. Ich beugte mich über den Hauch, um abermals nichts zu sehen, als die drahtigen Verzweigungen der Bäume, die wie Wurfnetze unsichtbarer Spinnen über den Fluß gespannt hingen. Es gab da eine Bank, die, über den Dunst geheftete schwarze Fläche, fast in die Böschung hinunterzukippen schien, und so war auch die Sitzfläche geneigt, nach vorne zu, sehnsuchtsvoll zu den Nebeln über dem unsichtbaren Fluß, man konnte nur unbequem darauf sitzen. Die Bank sperrte sich gegen die Berührung, daß es sich anfühlte, als wolle sie den Ausruhenden von sich ab und in den Fluß hinunterwerfen, oder, kaum daß der Ermüdete eingeschlafen wäre, ihn langsam hinuntergleiten lassen. Manchmal stieg ein Vogel, ein Wirbel, eine Strömung im Nebel empor, Flügel klatschten, und ein kaum erahnter dunkler Leib streckte den Hals, gewann Höhe und verschwand im Dunst.
Es gab eine Stelle stromab, wo eine milchige Helligkeit jenseits des Wassers anzeigte, daß dort die Bäume fehlten und der Blick frei sein mußte auf die Felder der anderen Seite. Zu sehen war freilich nichts. Nur ahnen konnte man es, nur die Vorstellung kam von selbst. Manchmal ein Glockenton, manchmal ein Heranwehen von Geläut, das verschwebte, lauter wurde, leiser wurde, dem man nachlauschte, und das man noch zu hören glaubte, wenn längst nur noch Blätterflüstern, Gurgeln, Windsäuseln zu hören war. Wenn jenseits der Nebel die Sonne schien und das Läuten aus der Weite aufklang, war es, als könne man eine schimmerne Stadt sehen, die über nebelweißen Feldern schwebte, herbeigerufen von Glocken, oder den Klang selbst verströmend, hell glänzende Zinnen, Türme, Dächer und Giebel, flimmernd und gleißend in der Sonne eines fernen Mittags, eine Stadt der Träume, der Sagen, ein Vineta der Felder, so durchsichtig und fein, als wäre sie aus einem Himmelsstoff herausgemeißelt, aus dem Licht selbst geronnen und zu feinstem Gewebe gewirkt. Die Stadt schwebte, aber es war nicht zu sagen, in welcher Höhe: Oben lag eine Strahlenkranz um die Giebel und Turmspitzen, die Dächer schienen transparent zu leuchten, den Himmel in sich aufzunehmen und das neblige Blau in Mauerwerk und Holz und Ziegel zu verwandeln; darunter aber strömten Schatten hinab; das von oben her verfestigte, verstofflichte Licht erstarrte, wurde Gasse und Straße, wechselte mit Schatten und dunklem Torbogen, bis ganz unten, in den Gewölben und Hallen, den Wurzeln, dem Fels, die Strukturen ins Dunkel fortbrachen, in ein Dunkel, das nicht wirklich dunkel, sondern nur die gewöhnliche Helligkeit der sonnenbeschienenen Felder war. Sah ich von dort, wo Acker, Weg, Obstbaum und Rebhuhn waren, wieder hinauf zum Licht – so war die Stadt, oder was immer ich zu sehen geglaubt hatte, verschwunden, und nur der Himmel strahlte und blinkte einen Augenblick, ehe ihn die Nebel wieder einholten und erlöschen ließen.





Donnerstag, 21. Februar 2008

...

Ich liebe diese eingefrorenen Blumen, abseits des überall aufschießenden Lichts, in den schwindenden Wegrändern, wie gebannt und zum Stillstehen gebracht von einer anderen, urvernünftigen, selbstgenügsamen und leiseleise tapsenden Zeit.
Überall braust es jetzt. Der Frühling ist die schnelle Jahreszeit. So schnell, daß man nicht mehr nachkommt. Die schnelle Jahreszeit, immer schon woanders, weiter, fort, flimmernd, aufgebrochen, abgefahren, schnell, so schnell, daß man strampelt und strampelt in all dem Brausen und Leuchten und Zwitschern und trotzdem immer zu spät ist. Verpaßt, vorbei, für dich diesmal wieder nix. Die Stimmen der Amseln süß so süß, daß es schmerzt, und noch schlimmer, weil man glaubt, man müßte es nur aber was denn nur? enträtseln, dann … dann … hätte man es endlich, wüßte es, dieses unmenschliche Singen und Jubeln. Aber man versteht es ja nicht. Man öffnet das Fenster, daß Wärme Licht und Schall hereindringen, und glaubt, auf der Stelle sterben zu müssen, wenigstens, sich auflösen. Könnte man es nur. Man bleibt am Leben und muß hören und riechen, am riesigen, tönenden, duftenden Draußen, wie es da jubelt: Selbstvergessen, irr, an der Grenze zum Sturz in flackernde Auslöschung, und doch: Ganz bei sich, unbeirrt und: In-der-Zeit. Das ist so verschwenderisch, als gebe es ja von ihr immer genug, von der Zeit, wie töricht, das Gegenteil ist doch der Fall, und es ist nie genug, je schneller und verschwenderischer, desto weniger bleibt, und desto mehr muß man verpassen und abermals verschieben, auf einen urvernünftigen Frühling. Den es nie geben wird.
Schon seit Wochen sticheln die Meisen. Vor zwei Tagen der erste Buchfink. Am nächsten Tag dann alle wie auf Kommando. Sind spät dran dieses Jahr.
Es wird Frühling.
Die große Zeit der Versäumnisse.

...

Eisblumen

Mittwoch, 20. Februar 2008

An C.

Wäre es im anderen Fall gutgegangen mit uns? Ich werde diese Frage nicht los. Ich habe den Verdacht, daß sich in meiner Sicht auf die Vergangenheit etwas Typisches zeigt, nämlich, daß für mich das Imaginäre wichtiger war als das Wirkliche, der Traum bedeutsamer als das Erreichbare, die Vorstellung bedeutsamer als die Tat, das Erdachte wirklicher als das Praktische, die Idee wichtiger als die Entscheidung. Und die Vergangenheit der wirklichen Zukunft überlegen.

Wahrscheinlich wären wir zusammen an einen Punkt gelangt, an dem Du Anforderungen der Wirklichkeit an mich gestellt hättest, die mit meiner aufschiebenden und ausweichenden Träumerei in Widerstreit geraten wären. Nicht mit meiner eigenen Vorstellung von Lebenswirklichkeit, nicht mit meinen eigenen Zielen – sondern mit meinen Träumen, die ich, wie ich manchmal glaube, um ihrer selbst willen geträumt habe und träume. Nicht, um sie eines Tages wahr werden zu lassen. Aber wie auch immer man es deuten mag, Traum oder Ziel, ich hätte mich entscheiden müssen. Ich, wir, hätten miteinander um Verantwortung und Pflichterfüllung ringen müssen, und wahrscheinlich wäre das der Punkt gewesen, wo es Dir gereicht hätte, spätestens dann nämlich, wo Dir bewußt geworden wäre, daß Deine Wünsche für mich ein schmerzliches Arrangieren bedeuten müßten: eine Pflicht. Und ich wiederum hätte mich entscheiden müssen, ob mir unser Zusammensein so viel wert wäre, daß ich mich der Wirklichkeit, die damit voraussetzend verbunden wäre, stellen wollte. Einer Wirklichkeit mit viermal nachts von Säuglingsgeschrei geweckt werden; einer Wirklichkeit, in der ich einen Job in der freien Wildbahn würde annehmen und mich dafür verbiegen müssen; einer Wirklichkeit, in der es heißen würde: „nimm/wickel/fütter du ihn mal!“. Und so weiter. Aber genug der Konjunktive. Diese Entscheidung ist uns erspart geblieben. Die Wirklichkeit sieht nun anders aus, und ich kann weiterträumen.

Und genau deswegen ist für mich die Vergangenheit, oder ihre Deutung, so immens wichtig. Wenn Du daher schreibst, daß Du „das anders in Erinnerung hast“, so klingt das für mich, als ob ein Teil meiner selbst nachträglich ungültig würde. Indem es für Dich so viel weniger wiegt, bleibe ich endgültig allein. Mit einem Traum. Mit einer Vergangenheit, in der nur mehr ich vorkomme, und die Du, so wie ich sie mir deute, nicht teilst. Mit einer Erinnerung, deren imaginierte Fortsetzung zur Illusion geworden ist. Und nicht nur das: Auch mein Traum von damals hat sich dann als Illusion erwiesen. So bin ich in zweifacher Weise einsam: Im Jetzt und in der von hier aus erreichten erinnerten Vergangenheit.


VOCES INTIMAE

... for we have some flax-golden tales to spin. come in! come in!

Kommt herein, hier sind auch Götter ...

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