Weils mich schon lange beschäftigt, und mal gesagt werden muß: Es ist schon erstaunlich, daß ausgerechnet diejenige Hälfte der Menschheit (zumindest dort, wo die Menschen genug zu essen haben) sich Sorgen um den eigenen Leibesumfang macht, die sich am wenigsten sorgen müßte – denn weibliche Attraktivität wird von einem bißchen Fleisch mehr auf den Knochen nur unterstrichen, ja, gesteigert, während dies für Männer kaum gelten dürfte. Bei Frauen ist das allseits gefürchtete zuviel eigentlich ein genau richtig. Quellen soll es und schwellen, und schwabbeln und wackeln, so ist es schön. Wem gefällt denn ein Bündel hautumspannter Knochen, jetzt mal ehrlich, wem gefällt das? Und wer hat sich ausgedacht, daß Hungerdürre schön sein muß? Ich verstehe diese hysterische Anbetung der Magerkeit nicht, die derzeit, und nicht erst jetzt, allerorten zelebriert wird. Hat das nicht etwas hochgradig Ungesundes? Ja, ist es nicht gar ein Ablehnen dessen, was Weiblichkeit gerade ausmacht, nämlich, nicht zerkantet und sehnig, sondern rund und voll zu sein? Pulchra enim sunt ubera quae paululum supereminent et tument modice … Abgesehen davon, daß es offener Zynismus ist, die Folgen des Vorzugs zu bejammern, daß man sich täglich mehr als sattessen kann, während auf der anderen Seite des Globus Mangelernährung und Hungertod an der Tagesordnung sind: abgesehen davon also mögen Menschen wie Frau Schiffer in einem abstrakten Sinn „schön“ sein – doch in ihrer Klapprigkeit zum Gähnen unattraktiv.
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Talakallea Thymon - am: 13. Aug, 11:37 - in: O tempora, o mores!
Konntst du es sie nicht eher sprechen lassen?
Was zeugst du ein Gefühl so übermütig,
das fehlgehn muß? Hielt immer dich für gütig,
wollt loben dich – und muß dich jetzt doch hassen.
Für dich mußt ich so viel Gefühl verprassen:
Denn ist es nicht verschleudert und vertan,
wenn du mich ließest einem leeren Wahn
gehören? Herrin, ist es denn zu fassen,
daß du mich hießest in mein Unglück rennen?
Daß du ein aussichtsloses Ziel gabst ein,
und mich für ein verschenktes Herz läßt brennen?
So viele gäbs. So manche könnt es sein.
Doch die mich wollen, dürfen mich nicht kennen,
und die ich will, die kann nicht meine sein.
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Talakallea Thymon - am: 12. Aug, 11:06 - in: verspieltes
Du bist fort, und es ist etwas von diesem Sommer abgezogen, was ihn so viele Wochen lang herrlich machte. Leer ist nun das Getöse des Winds in den Pappeln, leer die Geschäftigkeit der Menschen, leer und ohne Hoffnung das Gehen, das Stehenbleiben, das Denken, das Betrachten. Die Luft selbst ist ohne Widerstand, das Licht wird von ihr nicht getragen, es gleitet kalt durch das Blattwerk, glitzert auf den Gewitterpfützen, ist schon verloren, lange, bevor es Abend wird. Ach, Claudia, wie kann es sein, daß du alles in deinen Händen hieltst? Daß aus deinem Wirken und bloßen Dasein ein ganzer Sommer enstand und wuchs und leben durfte? Ohne dich bleibt nur eine Hülle aus Sonnenschein, eine abgestreifte Haut Wind, eine Maske Blütenduft. Es ist August, aber dieser Monat ist nur noch Rest. Vor dem Herbst und dem Dunkel, das ohne dich und das Hell deiner Augen und die Stütze deines Scheitels zermalmend schwer sein muß, vor diesem Dunkel graut mir. Ach, Liebste …
von:
Talakallea Thymon - am: 9. Aug, 11:07 - in: Nympha, mane!
Ein Zen-Schüler fragte einmal einen Meister, ob ein Hund Buddha-Natur habe.
Der Meister verneinte.
"Hast du Buddha-Natur?" fragte der Schüler weiter.
"Nein", antwortete der Meister.
"Aber jeder Mensch hat doch Buddha-Natur", rief der Schüler verwirrt.
"Das ist richtig", entgegnete der Meister. "Aber ich bin nicht jeder Mensch."
von:
Talakallea Thymon - am: 3. Aug, 11:09 - in: egregie dicta
Manche Orte haben ihre eigene Zeit. Manche Orte altern nach ihren eigenen Gesetzen. Manche Städte gehen dahin, unmerklich und jahrhundertelang, gemäß dem Zeitschlag ihres Herzens, manche Plätze, von Menschen wimmelnd und ungeachtet der vielen Füße, die über sie schlurfen und trampeln und schreiten und trippeln: ihr Antlitz wandelt sich, unwahrnehmbar, mit dem Schlagen ihrer innewohnenden Uhr. Und es gibt Orte, die sich nicht wandeln. Sooft du wiederkommst, es erwartet dich immer derselbe Ort; dieselbe Katze hockt auf der Fensterbank und sieht deinen Schritten mißtrauisch entgegen. In der Dämmerung schimpfen die Amseln in sich verdunkelnden Büschen. Ein Laden klappert, ein Hund bellt, die Glocken läuten, und plötzlich wird dir klar, daß Abend geworden ist, und es ist, als habest du dein Leben schon hinter dir. Der Ort, an den du zurückkehrst, starrt dich, alterslos, an, und die dich doch erwarten wollten, am Herd mit der Schürze die Mutter, und du siehst sie schon von der Straße, ein fleißiger Schatten im dampfhellen Fenster, der Vater, groß und ruhig wie die schützende Welt, als seist du wieder ein Kind, die, die dich erwarten sollten, sie sind lange tot. Und dennoch hallen deine Schritte in den Gassen wie jedesmal, der Flieder und der Liguster duften in den Vorgärten, überm goldüberstreiften Grün siehst du die Mücken tanzen. Die Häuserflure stehen hell, irgendwo qualmt Kartoffelgeruch aus der Glut, von ferne trägt der Wind das Tuckern der Kanalschiffe heran, und vielleicht erwarten dich wirklich die Mutter und der Vater, und du setzt dich mit ihnen in den Kreis der Lampe. Aber wo du warst damals und welche Wege du gegangen bist, das ist fort, das holst du nicht mehr ein; du folgst den Schatten der Jahre und dem Kind, das du warst. Aber der Ort, mag er so langsam altern, daß er dich weit überlebt, gibt dir nichts wieder, und einmal kehrst du zum letzten Mal vergebens zurück, und dann weißt du plötzlich, daß die Straßen dunkel sind, die Sonne lange untergegangen und Nacht ist.
Dann stehst du am Morgen an der Bushaltestelle, und während du noch nicht weißt, wohin du gehst, bist du schon eingestiegen, und über dein Gesicht am Fenster schiebt sich das Spiegelbild der Häuserzeilen, die du für immer verläßt. Die Sonne blitzt auf dem Glas, wenn der Bus eine Wendung macht; dann ist er fort, über die Brücke und um die nächste Kurve, und es ist, als hallten die Straßen noch nach von seinem Lärm.
von:
Talakallea Thymon - am: 30. Jul, 11:12 - in: post scripta
Nichts war gedacht. Du kommst uns ungelegen
Ich will es nicht, ich habe andres vor.
da kannst du werben, wie du willst, mein Ohr
ist taub dafür, ich bleib auf meinen Wegen,
und halte meine Glykera in Ehren.
Was ist? Die Brüste dort und samtne Haut
soll ich betrachten? Herrin, ungeschaut
solln sie vorübergehn, ich will es wehren,
und standhaft meine Augen niederschlagen.
Will blind sein deinem Locken. In der Welt
ist nicht ein Reiz, den ich nicht könnt ertragen.
Auch jenes Aug … doch halt! O, es gefällt!
O holder Mund! Der Brüste schönes Wagen
besiegt, ach Herrin! mich – mein Stolz zerschellt …
von:
Talakallea Thymon - am: 29. Jul, 11:32 - in: verspieltes
Wieder festlicher Sommermorgen, mit verspieltem Laub, trockenem Staub auch überall, trotzdem frischklare Luft. Ich öffne die Jalousien im Büro, und der Tag drückt sich in all seiner Größe und Helle herein. Ich will mich freuen. Mein Herz setzt an, zu jubeln. Aber es stimmt nicht, und das Blausein da draußen, die schlummernde Wärme, die Kühle am Fuß der Bäume, es lähmt mich das alles. Es lähmt mich das viele viele Licht. Dieser Sommer ist so spät, daß er mir fremd und verwirrend in den Händen liegt. So seltsam, daß er wie sein eigener Nachhall ist.
Heute. Heute noch einmal, Claudia. Dann kommt das Schweigen. Und vielleicht auch das Vergessen. Ein Sommer weniger. Wieder einer vorbei.
von:
Talakallea Thymon - am: 28. Jul, 11:37 - in: Nympha, mane!
Wieder ist Sommer
dampfend im Gras Hundekot
Riechst du die Sonne
von:
Talakallea Thymon - am: 28. Jul, 11:36 - in: verspieltes
Heute Morgen Nebel und dieser feine, würzige, manchmal ins Modrige umschlagende Geruch in der Luft – Brand, Feuchtigkeit, Laub, Straßennässe, Erde –, der schon den Herbst ankündigen will. Es riecht nach Fülle und Frucht und nach Verschwendung. Doch in der Fülle liegt schon der Verfall eingekapselt, und das feingestreute, weiche Licht, keine Sonne, klingt schon nach Abschiednehmen, nach Erinnern, nach Schweigen, das noch zittert von eben verklungenem Lärm. Rabenschreie von unsichtbaren Körpern in den Bäumen erzählen von Dingen, die unwiederbringlich vorbei sind. Es sind keine Geschichten; es sind viel mehr reine Augenblicke des unbewußten Glücks, und daß sie eben vorbei sind, so oder so, das ist das traurige. Was immer auch folgen wird, Jubel oder Schmerz: das, was einen Sommer lang leben hieß, das ist schon nurmehr Erinnerung und Gewesenes. Einen Augenblick tue ich noch so, als sei ich noch mittendrin. Aber ich weiß doch schon, daß ichs nicht mehr einholen kann, und auch nicht verhalten, verzögern, verlängern. Wie auch immer diese Geschichte weitergehen wird, und welche Rolle du, Claudia, darin spielen wirst: unsere Sommergeschichte, wenn man es so nennen kann, ist zu Ende. Ehe du noch weißt, daß es für mich eine Geschichte war.
von:
Talakallea Thymon - am: 27. Jul, 11:39 - in: Nympha, mane!
Und noch ein Tag Sommer: Riesige Menschenschatten wandeln über die Plätze, das Laub der Bäume ist still, die Flächen des Betons strecken sich. Die Scheiben des Uni-Centers blinzeln in die Sonne. Irgendwo ist noch eine Pfütze vom letzten, schon vergessenen Regenguß liegengeblieben und spiegelt einen Himmel voll Laub wider. Der eigene Schatten fällt überlang aus dem Schatten des Ahorns. Die Insekten sind träge von der Nachtkühle. Mit ihren krummen Bahnen spannen sie Räume unters Gezweig. Es ist überall Licht, teils versteckt, teils offen leuchtend, teils gerade, teils verwinkelt, hier in Stücken und Flecken, dort herrlich über eine Straße hingegossen, Licht, das sich die Schatten zurückerobert, und so eines, das wir gestern abend noch für unmöglich erklärt hätten.
Gestern sind wir hier noch gegangen, Liebe, ja, gestern wars. Wir sprachen. Wir lachten. Du berührtest mich am Arm. Wir gingen. Wir blieben stehen. Du so entspannt und ganz du und voller ausgelassener Gelassenheit und Freude an allem. Ich ganz Aufschub, Hinhalt, Verzögern. Dich noch länger, noch eine weitere Minute, sehen und beimirhaben. Nur noch eine Minute, ehe du dich, schon weiter, schon abgewendet, verabschiedest, schon verabschiedet hast von mir und dich aus mir löst und fort bist für ichweißnichtwielang. Nur noch diesen Augenblick. Und dann noch einen und noch einen.
von:
Talakallea Thymon - am: 27. Jul, 11:34 - in: Nympha, mane!
In Wohl und Wehe sind wir dir verbunden,
und unsre Furcht vor dir, sie ist gewaltig,
denn, Herrin, was du wirkst, ist zwiegestaltig:
In Nacht ist Tag, in Schmerz ist Glück gewunden.
Kaum lobten wir, schon bleibts im Halse stecken,
und was uns Glück war, das wir kaum gefühlt,
brennt nun als Schmerz uns, denn du bist erkühlt,
zufrieden, daß du weckst, was du kannst wecken.
Wir fliehen scheuend deine Macht und suchen
nur wieder deinen Rat. Mit Opferkuchen
aus bittren Händen müssen wir dich speisen.
Wir hassen schon, und wollen dich verfluchen
und flehen doch, du mögst uns Rettung weisen.
Wir wollens nicht. Doch müssen wir dich preisen
von:
Talakallea Thymon - am: 26. Jul, 11:39 - in: verspieltes
Etwas fehlte in ihr, ein Mangel bewegte sie, ein Nichts. Sie irrte durchs Zimmer, vom Fenster zur Tür – sollte sie noch einmal hinaus? – von dort zum Krug mit Wasser, das keine Linderung, wieder zum Fenster, das keine Kühlung brachte. Sie hob das Gefäß an den Mund, ließ das Wasser auf die Lippen treten, Überdruß überkam sie, sie stellte den Krug wieder hin. Blieb einen Augenblick reglos, warf sich endlich aufs Bett, von Zerren und Reißen erfüllt.
Da aber wuchsen ihre Füße und wurden riesengroß, und Wurzeln sprangen aus ihnen hervor und gruben sich in Erde und Stein der Welt. Zu einer großen Schale weitete sich ihre Mitte, wurde ein See, ein Becken, ein Teich, den Erlen beschatteten. Mondlicht lag still auf ihrer Brust, ihr Atem wurde eins mit dem Heben und Senken des Baches, dem Schwellen und Niedersinken des Blättergewirbels; und da waren ihre Hände plötzlich schwer und reich und voller Früchte, und ein tauchte sie in eine Zwie-Welt, darin Stimmen flüsterten unter schwankendem Mond, und ein Wind sich erhob wie aus Pfotentritten, und ein Sturm warmer, schnaufender Leiber nahte, die dichtgedrängt sich aneinander rieben, daß Funken knisternd zwischen ihnen hervorsprangen und ins Dunkel, ins dichte, umher drückende Dunkel zerstoben. Seltsame Bilder brachten sie hervor, Bilder die Solveigh unheimlich und süß zugleich waren, Münder und Augen, die aus Handflächen und Fußsohlen hervorsahen, Köpfe, die lichtübergossen in die Ferne schauten, Schultern, die schweißglänzend verwirrende Arbeit verrichteten, oder sie sah einen See, der im Mondlicht glänzte wie ein Mund, ein Strom von Wasser, das aus einem felsigen Grund hervorbrach, das Glitzern auf dem Fell eines Luchses. Sein Auge, dessen Blick in sie drang wie Feuer. Und ein Regen und Sehnen kam in ihre Brust, wie sies noch nie gefühlt hatte. Duft trat in ihre Nase, ein scharfer Odem, der von dem Leibersturm ausging, sie aber bald erfaßt hatte, ihr unter die Haut gedrungen war, in ihrem Blut pochte, bis sie ihn selbst ausdünstete, und die Räume hinter dem Dunkel anfüllte. Und jenes Dunkel, aus dem der Leibersturm herangeeilt und wohinein die Flut, begleitet von wildem, dunklem Schnaufen wieder davoneilte, jenes Dunkel barg Höhlen und mächtige Räume, weite Hallen und unsichbare Gänge, in denen sich Solveighs Wachsein verlor und mannigfach teilte. Vielleicht war es der Grund eines Sees, vielleicht eine Höhle unterm Gebirg, vielleicht ein Wald uralter Bäume, so dicht, daß die Sonne niemals den Grund berührte und die Stämme wie Säulen das Blätterdach trugen, weit, weit oben, wo das Licht manchmal dämmrig zu erahnen war, wenn ein Wind das Laub wie eine Meeresfläche wogen ließ. Neue Bilder kamen, und sie sah einen glänzend schwarzen Raben von einem Baume auffliegen, sah Flammen in einer Feuerstelle steigen und wieder zusammensinken, sah dann voller Schrecken Temes’ Fohlen in einer Blutgischt aus dem Schoß der Stute herausstürzen, und plötzlich war es ihr eigener blutiger Schoß, der das Fohlen von sich gab. Voller Entsetzen wollte sie an sich herabsehen, doch da waren die Bilder fort, und es wurde dunkel.
Endlich verlor sich auch das Getrappel und Geschnauf in den Fernen, und ihr Wachsein kehrte zurück aus dem Irrgarten, und der Mond schien nicht mehr ins Fenster. Das Bett lag im Dunkel des Zimmers. Zum Fenster wallte Kühle herein. Matt schwebte noch der Tiergeruch über den Laken. Alles war still, nur ein langsames, tiefes Atmen blieb und füllte den Raum.
von:
Talakallea Thymon - am: 23. Jul, 11:46 - in: An habent et somnia pondus
Gerade dann, wenn man am meisten zu erzählen hat, ist ein Brief das letzte, wozu man sich sammeln möchte. Und will man dann einmal schreiben, hat man nichts mehr zu erzählen.
Viel eher greift man zum Telephonhörer oder schreibt eine elektronische Nachricht. Man will seine Sorgen schneller loswerden. Man ist ungeduldig und will sofort eine Antwort haben. Ein Brief dagegen braucht Zeit; er erfordert eine Sammlung, derer man ausgerechnet aus demselben Grunde entbehrt, aus dem man überhaupt zu schreiben erwogen hat.
Indem der Brief den Schreibenden dazu anhält, seinen Gedanken eine Ordnung zu geben, zwingt er ihn auch, Grund und Wirkung zu entfädeln, nach Hintergründen, Motivationen, und Ursachen zu suchen, sich selbst auf die Schliche zu kommen, und am Ende dieses Vorgangs versteht man sich selbst vielleicht besser. Der Brief ist wie ein Tagebuch, nur distanzierter, denn man muß sich immer fragen, wie die eigenen Worte auf den Empfänger wirken werden, was man sagen, was man verschweigen will. Auf diese Weise hilft das Briefschreiben dem Schreiber, sich auch darüber klarzuwerden, was er sich selbst eigentlich nicht eingesteht. Oder, anders herum, das Briefschreiben verhilft gerade dazu, sich selbst etwas einzugestehen, indem man es einem anderen mitteilt. Immer vorausgesetzt natürlich, man schickt den Brief auch ab.
Wann schreibt man heutzutage überhaupt einen (persönlichen) Brief? Unter wer schreibt? Freunde einander? Eltern und Kinder? Jüngere und Ältere, wenn letztere sich scheuen, es mit der elektronischen Post zu versuchen? Ich stelle fest, daß ich kaum noch Briefe schreibe, es sei denn, daß ein Briefwechsel schon besteht. Der Brief ist zu etwas Besonderem gewachsen, nicht nur, weil er seltener geworden, sondern weil er einem strenger ausgewählten Adressatenkreis vorbehalten ist.
Das war früher ganz anders. Ich erinnere mich, daß der Brief bis in die erste Hälfte der 90er Jahre ein völlig gewöhnlicher Mitteilungsweg war, wenn das Telephon einmal nicht in Frage kam. Vor kurzem fiel mir ein Brief in die Hände, den mir eine Bekannte aus der Universität geschickt hatte. Es war damals vorlesungsfreie Zeit, sie und ich hielten uns bei unseren Eltern auf, keiner hatte die Nummer des anderen. Ich war verblüfft. Und ich erinnerte mich: Natürlich hatten wir Briefe gewechselt, oder einander Postkarten geschrieben. Warum schien mir das plötzlich ungewöhnlich? Wir würden heute keinen Brief mehr schreiben, dachte ich. Warum? Nicht, weil es uns zu umständlich wäre. Nein, mein Erstaunen über diese einfache, in Vergessenheit geratene Tatsache hatte einen anderen Grund. Ich glaube, die schriftliche Mitteilung hat einen neuen Stellenwert erhalten. Ein Brief ist nicht einfach ein Ersatz fürs Telephon, wie früher: Diese Stelle nimmt heute die E-Mail ein. Vielmehr ist der Brief etwas Besonderes, weil er eine gewisse Vertrautheit voraussetzt, ein inniges Verhältnis zwischen den Korrespondierenden, eine persönliche Nähe, die für die E-Mail nicht erforderlich ist und von ihr auch nicht impliziert wird. Schriebe ich heute einem Kommilitonen, den ich nur aus dem Hörsaal kenne, und den ich höchstens einmal am Telephon gesprochen habe, einen Brief, wäre das völlig ungewöhnlich, weil ich damit einen Grad der Nähe zu diesem Menschen behaupten würde, der in unserem Verhältnis noch gar nicht erreicht wäre. Der Brief tritt heute zwischen zwei Menschen erst viel später in Erscheinung. Der Brief bedeutet Freundschaft. Einen persönlichen Brief, ja nur eine Postkarte schreiben, ohne daß ein Verhältnis großer Nähe besteht, hieße, sich im Ton vergreifen. Es wäre, wenn nicht ein Akt des Sichaufdrängens, so doch etwas Voreiliges, und ist in jedem Fall ein Schritt, der vom anderen mit Vorsicht, ja sogar Mißtrauen beobachtet würde.
Cicero schrieb täglich mehrere Briefe. Seneca „unterhielt sich“ schriftlich mit seinem Schüler Lucilius; seine Briefe füllen zwei dicke Bücher. Zieht man in Betracht, daß der Mensch auch noch Dramen, philosophische Abhandlungen und anderes verfaßt hat, muß wohl davon ausgegangen werden, daß auch er täglich mehrere Briefe (nicht nur an Lucilius und nicht nur die, die ohnehin zur Veröffentlichung bestimmt waren) geschrieben haben muß. Heute dagegen zählen wir die Briefe nach Monaten. Aber ich wage zu behaupten, daß durch das Medium der elektronischen Post eine neue Schriftlichkeit zustande kommt und eine neue Kultur des Briefwechsels erwächst, die der alten, von Cicero und Seneca gepflegten vielleicht näher steht, als man vermuten würde. Ich schreibe täglich mindestens eine Nachricht mit mehr als 10 Zeilen Länge, an bestimmte Personen, mit denen mich genau diese Form des „Brief“wechsels verbindet, oft schon seit Jahren. Das sind Nachrichten, die immer über die bloße Information, über die Verabredung, Mitteilung, Vereinbarung hinausgehen, und in denen ein echtes Gespräch zustande kommt. In früheren Zeiten wären das alles „echte“ Briefe gewesen, hätte man sich die Mühe gemacht. Für Cicero und seine Zeitgenossen war es aber wohl selbstverständlich, sich diese Mühe zu machen. Vielleicht aber hatten sie es auch leichter. Ich frage mich schon seit längerem, ob wir heute nicht allzu oft abgelenkt sind durch eine Flut von Möglichkeiten der Zerstreuung, so daß wir Dinge aus den Augen verlieren, die, wenn wir uns daran machten, sie zu schaffen, vielleicht Bestand hätten. Oder uns selbst reifen lassen würden dadurch, daß wir Mühe aufwenden und uns im Wortsinne: widmen. Oder etwas der Welt hinzufügen würden, auf das wir stolz sein dürften. Wir schaffen so wenig Schönes, das wir der Welt entgegenstellen können. Wir sind abgelenkt und alles ist uns allzu schwer. Kaum bringen wir es noch zuwege, etwas mit der Hand zu schreiben. Aber das ist ein Gedanke, dem ich einen eigenen Brief widmen muß.
von:
Talakallea Thymon - am: 23. Jul, 11:41 - in: Flaschenpost
Wenn die Nacht kommt
Und die Stimmen erwachen
Wenn die Finsternis naht
ungerufen wie meist
und die Zufluchten der Stille
abhanden kommen.
Wenn der Himmel sich abwendet:
An welche Sterne hängen wir dann
das Gewicht unserer Seele?
Musik von irgendwoher, Schönheit in
ihre Schranken verwiesen. Unmöglich,
irgendetwas, Seele, Tag, Nacht, Stern, Mond,
Lied, Meer, Land, Wüste, Wald,
auszuhalten, ließen wir ihr,
ließen wir der Schönheit die Zügel gehen.
Aber die Nacht kommt auch ungerufen, und
die Sterne, die Sterne: vergessene Speise der Engel,
verworfenes Mahl, abgelegtes Singen, nachlässig erübrigt, die
Sterne tragen die Last unseres Herzens nicht.
Sagtest du nicht: Halte mich fest, begrenze mich?
Aber du sollst Nacht werden
und Himmel.
Soviele Blicke an dich angehängt. Ziert dich nicht
die Liebesfeuchte sovieler Lider?
Aber falsch: unter deinen Füßen ruht die Straße. Es ist
nicht so, wie ich dachte, und deine Hände schütteln
Liebe von den Bäumen. Greif
in mein Herz, greif durch mich hindurch, nimm mit,
was du an Toden findest, such dir den schönen Schmuck aus und
Die schillernde Einsamkeit, den Vogel, die Spur
seines Fluges im Licht des Morgens
das Gesicht in der Fensterscheibe, das Eisige
des Fingers, der
deine Wange ungefragt berührt hat.
von:
Talakallea Thymon - am: 22. Jul, 11:48 - in: Dem geschah auch Lieb durch Liebe nie
Heute morgen ist der Himmel ungewohnt tiefblau. Festliches Sonnenlicht hängt in den Bäumen. Schatten spreizen sich träge und schlaftrunken in Höfen und unter Hecken. Die Menschen scheinen langsamer zu gehen als sonst, als hätten sie mehr Zeit heute, und obwohl ihre Mienen mürrisch sind, können sie nicht verhindern, daß das aufgehende Licht in ihrem Auge blitzt. Als achteten auch Motoren und Getriebe das Fest dieses Morgens, sind die vielen Fahrzeuge leise und unauffällig. Der Kaffee duftet herrlich, die Arbeit ist sowieso erträglich. Daß ich dir schreiben darf, an einem Tag wie heute, ist etwas Wunderbares und Frisches, als hätte ich es eben erst entdeckt: Ebenso wie die Blätter der Bäume erst heute auf den Gedanken gekommen zu sein scheinen, das Sonnenlicht so herrlich zu spiegeln und so wunderbar und blitzblank zu glänzen, ja als sei die Sonne heute überhaupt zum erstenmal aufgegangen.
Wie mußt du an einem solchen Tag erstrahlen, frage ich mich, und muß dich sehen, sofort, dringlichst, unbedingt. Noch schöner muß dein Auge den weiten Morgenhimmel wiedergeben; noch duftender deine Haut schimmern im Frischlicht. Noch schöner deine Füße wandeln auf der sich wärmenden Erde.
von:
Talakallea Thymon - am: 21. Jul, 11:50 - in: Nympha, mane!
Einsam muß er, der neue Mensch, sich unter seinen Mitmenschen vorgekommen sein, einsam und in kühlen Hauch geschlungen, einsam wie auf dem Gipfel des Mont Ventoux, den er als erster erstieg: Alleine in hitzelflirrenden Steinhängen. Allein mit der neuen Sehnsucht in seiner Brust, die er mit keinem Menschen seiner Zeit zu teilen vermocht hatte und die vielleicht in jener Wanderung ihren bildhaftesten Ausdruck findet. Wir können kaum ermessen, was es bedeutet haben mußte, in jener Zeit so anders zu fühlen und damit so einzig und getrennt von allem zu sein. Als erster nach Jahrhunderten wagte er es, seine Liebe zum Mittelpunkt und Maßstab der Welt zu erklären. Seine Liebe ist alles. Die Welt wird ihm wirklich durch seine Liebe, und deutbar durch das Eigene, durch die Sehnsucht seines vereinzelten Selbst. Daß sich auch die Welt unter diesem Blick verwandeln muß, daß sie diesem liebenden Auge gänzlich neu erscheinen muß, ja, daß sich dieses Auge plötzlich selbst beobachtet und verstehen will, ist nur zu begreiflich. Damals war es unerhört. Und wir staunen über diesen plötzlichen Funken in seiner Brust, den neuen Lebensmut, der den Gestank der Gassen, das Elend von Pest und Aussatz, die Erniedrigung von Schmerz und Schmutz zu überwinden gewillt ist, und das klare Auge, das auf einmal emporblicken will zu den Hängen, die damals vielleicht noch pinienbestanden, duftend und vom Lärm der Zikaden erfüllt waren, das sich hinwendet zur harten, steinernen, sonnendurchglühten Welt und sie zum ersten Mal als etwas empfindet, das verstanden und durchwandert werden will, ohne Gleichnis, ohne Jammertal, ohne Prüfstein zu sein. Und wir bewundern das liebende Herz, das sagte: Laß uns dort hinaufgehen. Laß uns unter Pinien wandern, in Mühsal steigen, sehen und sehend dichten.
Heute jährt sich sein Geburtstag zum 700sten Mal.
S’amor non è, che dunque è quel ch’io sento?
Ma s’egli è amor, perdio, che cosa et quale?
Se bona, onde l’effecto aspro mortale?
Se ria, onde sí dolce ogni tormento?
S’a mia voglia ardo, onde ‘l pianto e lamento?
S’a mal mio grado, il lamentar che vale?
O viva morte, o dilectoso male,
come puoi tanto in me, s’io no ‘l consento?
Et s’io ‘l consento, a gran torto mi doglio.
Fra sí contrari vènti in frale barca
mi trovo in alto mar senza governo,
sí lieve di saver, d’error sí carca
ch’i’ medesmo non so quel ch’io mi voglio,
et tremo a mezza state, ardendo il verno.
Nachdichtung von Martin Opitz
ISt Liebe lauter nichts / wie daß sie mich entzündet?
Ist sie dann gleichwol was / wem ist ihr Thun bewust?
Ist sie auch gut vnd recht / wie bringt sie böse Lust?
Ist sie nicht gut / wie daß man Frewd’ auß jhr empfindet?
Lieb’ ich ohn allen Zwang / wie kan ich schmertzen tragen?
Muß ich es thun / was hilfft’s daß ich solch Trawren führ’?
Heb’ ich es vngern an / wer dann befihlt es mir?
Thue ich es aber gern’/ vmb was hab’ ich zu klagen?
Ich wancke wie das Graß so von den kühlen Winden
Vmb Vesperzeit bald hin geneiget wird / bald her:
Ich walle wie ein Schiff das durch das wilde Meer
Von Wellen vmbgejagt nicht kan zu Rande finden.
Ich weiß nicht was ich wil / ich wil nicht was ich weiß:
Im Sommer ist mir kalt / im Winter ist mir heiß.
Nachdichtung von Friedrich Wilhelm Riemer (1826)
Ist’s Liebe nicht, was dann ist dieses Meinen?
Ist’s Liebe nicht, wie nenn’ ich sie zumal?
Nenn’ ich sie gut, wie schafft sie herbe Qual?
Wenn böse, wie versüßt sie alle Peinen?
Lieb’ ich freywillig, woher Klag’ und Weinen?
Wenn wider Willen, frommt dann Thränenzahl?
Lebend’ger Tod! erquickungsreiche Qual!
Wie hast Du Macht an mir, die ich verneine?
Und hast Du sie, leid’ ich sie mir zum Schaden:
In schwankem Kahn, im Widerspiel der Winde,
Auf offnem Meere treib’ ich ohne Steuer;
An Wissen leicht, an Irrthum schwer beladen,
Bin ich nicht so wie ich mich gern empfinde,
Und fühl’ in Hitze Frost, in Kälte Feuer.
Nachdichtung von Karl Kekule (1844):
Wenn Liebe nicht, was ist es, was ich fühle?
Und ist es Liebe, was, um Gott, ist diese?
Wenn gut, wie kommt’s, daß tödtlich hier sie wühle?
Wenn bös, daß Wonne jedem Schmerz entsprieße?
Wenn ich mit Willen glüh’, was heisch’ ich Kühle?
Wenn gegen, hilft mir’s, daß die Thräne fließe?
Lebend’ger Tod, und Luft bei Flammenschwüle,
Wir zwingt ihr mich, wenn ich’s nicht selbst erkiese?
Erkies’ ich’s denn; – so fleuch, rechtlose Klage! -
So treib ich schwankend hin auf schwachem Kahne,
Und steuerlos, vom hohen Meer umsprühet;
So leicht an Wissen und so schwer an Wahne,
Daß selber ich nicht weiß, wonach ich jage;
Im Sommer eisig, Winters heiß durchglühet
von:
Talakallea Thymon - am: 20. Jul, 11:52 - in: Werke & Tage
Heute Morgen die Donnerschläge eines Gewitters, die sich polternd in den halbfertigen Schlaf drücken … Beunruhigungen, Sorgen. Es ist auswegslos. Ich komme an dir nicht vorbei, Claudia. Und doch kann ich nicht zu dir kommen, nicht mit dir sein. Es wäre grotesk. Von allen anderen Schwierigkeiten ganz zu schweigen.
Die Schwingen der Bäume hängen vollgesogen von Regen über den Weg. In den Pfützen stehen zitternd die Umrisse der Wagen und Baumstämme, und die Welt fühlt sich an, als sei sie schon viel später als sie wirklich ist. Der Sommer ist schon vorbei. Unsere Berührungspunkte jede Woche sind vergangen, bevor sie vergangen sind. Traurigkeit macht die Bäume schwer, und bald wird alles, was ich seit April oder Mai erlebe, wie ein immer fernerer Spiegel sein, in dem sich alles immer kleiner und kleiner spiegelt.
von:
Talakallea Thymon - am: 20. Jul, 11:51 - in: Nympha, mane!
Erst schlägst du mich, dann führst du mir vor Augen
berauschend Mittel gegen solches Leid,
als wärest jetzt zu helfen mir bereit,
und könntst als Leidensgrund zum -heil auch taugen.
Und was bleibt übrig außer zu vertrauen
und sich anheimzustellen solcher Sucht?
Gut, lös das Wehren mir, nimm mir die Flucht:
doch laß es leicher sein, auf dich zu bauen.
Erfülle mich mit deinem wehen Sehnen,
doch laß mich nicht allein, nimm mir nicht fort
was du so schön in Aussicht wolltest stellen.
Hast du doch alle Schuld und schuldest denen,
die du geschlagen, jetzt dein großes Wort,
daß deine dunklen Sonnen sie erhellen.
von:
Talakallea Thymon - am: 19. Jul, 11:57 - in: verspieltes